© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Antreten auf dem Kasernenhof
Matthias Bäkermann

In diesem Bereich sind starke Kräfte konzentriert, dadurch wird die Möglichkeit einer amphibischen Operation gegen Schleswig-Holstein durch Mot.-Schützenregimenter möglich, transportiert durch Landungsschiffe der Volksmarine. Wir müßten diese Landung vereiteln." So erklärt der verantwortliche Offizier vor einer großen Landkarte, worin der Sinn unseres Wehrdienstes begründet liegt. Den meisten ist, trotz aller aufkommenden Reden und Reportagen über Glasnost und Perestroika, die Bedrohung dieser grellrot markierten Landmasse offenbar – ja, die Grenze (im Ernstfall die Front) liegt wirklich nicht weit entfernt.

Die Erklärungen aus dem politischen Unterricht in der Kaserne stellen bei all ihrer Dramatik jedoch für die meisten von uns Rekruten nichts Besonderes dar. Wir alle sind in der Normalität des bipolaren Systems auf der Welt und in Deutschland groß geworden, niemand zweifelt an der Existenz zweier deutscher Staaten, eingebettet in ihrer jeweiligen Allianz. Gedanken an eine Wiedervereinigung sind genauso realitätsnah wie der Traum vom Lottogewinn.

Sicherlich ist die Bedrohung in den letzten Jahren gesunken, die Hoffnung, niemals auf Deutsche schießen zu müssen, ist begründet. Doch hätte ich wirklich Schwierigkeiten damit? Was soll an diesen Menschen nach all den Jahren jenseits der Mauer uns noch ähnlich sein? Die leben doch glücklich und zufrieden in einem System, in welchem ich nicht tot über einem Zaun hängen möchte.

Die DDR als ganz normalen Staat zu sehen, das habe ich durch die Erziehung durch Schule und Gesellschaft nun als frischgebackener Abiturient doch noch geschafft. Die Meldungen über einen bevorstehenden Staatsbankrott oder die Unterdrückung und Bespitzelung Andersdenkender habe ich einzuordnen gelernt, nämlich in die Mottenkiste eines alten "Eisernen Kalten Kriegers" wie Gerhard Löwenthal. Darüber amüsiert man sich, genauso wie über die gerade abgeschafften Anführungszeichen der Bild-Zeitung beim Wort "DDR".

Seit dem 1. Oktober 1989 diene ich nun an der Küstendienstschule in Glückstadt bei den 76ern in der Grundausbildung. Mit Marine hat meine Ausbildung eher am Rande zu tun, hauptsächlich befinden wir uns auf dem Truppenübungsplatz. Die tägliche Information über aktuelle Geschehen ist spärlich, da zum einen die Abgeschiedenheit von irgendwelchen Medien, zum anderen aber auch die Interessenlosigkeit nach anstrengendem Dienst die Nachrichten des Tages in den Hintergrund treten lassen.

Unmittelbar Erlebtes, wie die Einquartierung von DDR-Übersiedlern in einen leeren Kasernentrakt, wird phlegmatisch zur Kenntnis genommen. Die scheinen sich in der DDR durch die Möglichkeit der Übersiedlung über Ungarn auf raffiniertem Wege des sozialen und gesellschaftlichen Bodensatzes zu entledigen, denke ich, da ich nun täglich die oft betrunkenen "Landsleute" sehe, welche insgesamt einen eher abgebrochenen Eindruck hinterlassen. Außerdem entspricht dieses nicht nur den in den DDR-Medien im Herbst ’89 veröffentlichten Meldungen, sondern auch manchem Wort aus unseren eigenen Radiosendern und Gazetten. Auch wenn heute viele behaupten, die damalige Entwicklung vorausgesehen zu haben, kann ich mich kaum an gleichlautende Kommentare über die Begebenheiten in dem zweiten deutschen Staate erinnern, dessen Existenz seinerzeit hartnäckig nicht in Frage gestellt wird.

Am Donnerstag, den 9. November, kommen wir nach einem mehrtägigen Aufenthalt aus dem Gelände zurück, dreckverkrustet, durchgefroren und erschöpft erreichen wir gegen 18.30 Uhr die Kaserne. Viele meiner Kameraden sind mit den Gedanken schon in dem morgen beginnenden Wochenende.

Überraschenderweise wird gegen etwa 19.45 Uhr, gerade während der Waffenabgabe, Alarm gegeben. Meine Kameraden sind erstaunt darüber, daß man uns nach den letzten Tagen erneut mit einem Alarm ärgern will, in Anbetracht der Tatsache, daß die Vorgesetzten nach unserer Übung zufrieden schienen. Außerdem sind wir beunruhigt, da auch die Unteroffiziere von diesem Alarm scheinbar keine Kenntnis haben.

Vielen von uns spinnen nun allerlei Gedanken durch den Kopf, während wir in der Dunkelheit des Kasernenvorplatzes Aufstellung nehmen. Sollte die nicht gerade stabile Situation in der DDR fatale Ausmaße angenommen haben? Hat die Rote Armee den Umtrieben ein Ende nach chinesischer Manier gesetzt? Oder sind die alten Männer des Politbüros jetzt gänzlich verrückt geworden und lenken von der Innenpolitik durch außenpolitische Aggression ab?

Niemals ist mir die angetretene Formation so diszipliniert und ruhig in der Erinnerung wie an diesem Abend. Man kann eine Stecknadel fallen hören. Langsam schreitet nun der Inspektionschef den langen Weg von der Straße auf den Vorplatz. Nachdem er ungewohnt ernst einen guten Abend gewünscht hat, beginnt er, in theatralischer Manier die Tragweite des Augenblicks zu beschreiben. Mir steigt das Blut in den Kopf –um Gottes Willen – was ist passiert?

"Der Chef der Berliner SED und Mitglied des Politbüros Schabowski gab gerade in einer Pressekonferenz bekannt, daß ab heute abend die Grenze offen sei", diese Worte des Kapitänleutnants lassen mich zusammenzucken – meine Kameraden schauen sich verständnislos an. "Die Grenze offen" heißt das, jetzt rollen die Panzer?

Am Ende seiner Rede vor seinen verstockt dastehenden Untergebenden läßt unser Inspektionschef wegtreten, nicht ohne zuvor ein Faß Freibier in der Mannschaftskantine auszuloben. Doch keiner meiner Kameraden geht in die Kantine, alles stürmt in das Fernsehzimmer. Nie zuvor war dieser ungemütliche Raum so gefüllt, nie zuvor schauten die Anwesenden so gebannt auf den Bildschirm, auf welchem in einer Sondersendung die Bilder von der Mauer vor dem Brandenburger Tor gezeigt werden. Tränen der Rührung sehe ich allerdings erst später am Abend in der Kantine, denn der Schreck der Nachrichtenübergabe sitzt vielen noch in den Gliedern.

In dieser Nacht liege ich trotz meiner Müdigkeit noch lange wach auf meiner Koje und denke über die glückliche Entwicklung nach und über das, was uns statt dessen erspart geblieben ist.


 
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