© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Schneebälle ins Niemandsland
Carsten Engelhardt

Im Norden Grenze nach etwa zwei Kilometern, im Osten Grenze nach fünf Kilometern, im Süden Grenze nach 500 Metern, die einzige Zufahrtsstraße im Westen. Innerhalb dieses Gebietes, das auch als Heldraer Zipfel bekannt geworden ist, liegt mein Heimatdorf Altenburschla, in dem ich den größten Teil meines bisherigen Lebens verbracht habe.

Die Zonengrenze, die uns umgab, war allgegenwärtig. Von überall konnten wir wenigstens eine der vielen Schneisen sehen, in denen sich der Eiserne Vorhang durch die Wälder zog. Bei Nacht waren die Sperranlagen im Bereich des nur 1.000 Meter entfernten thüringischen Nachbarortes Großburschla sogar hell erleuchtet, was für mich als Kind die Sache geheimnisvoll und spannend werden ließ.

An die BGS-Hubschrauber, die beinahe täglich Altenburschla überflogen, hatten wir uns nicht nur gewöhnt, sie gehörten zu den "Räuber und Gendarm"- oder "Peng-Peng"-Spielen meiner Freunde und mir zwingend hinzu. Ebenso wie der graue Zollkombi, der regelmäßig die Grenze abfuhr. Der Zoll und die Grenze erhielten ihre besondere Bedeutung auch daher, daß sowohl mein Vater als auch die Väter fast aller meiner Freunde beim Zoll beschäftigt waren.

Mit dem Zaun und der damit verbundenen Tätigkeit unserer Väter hörte die Vorstellungskraft allerdings auf. Obwohl ich schon vor der Grenzöffnung siebenmal die Gelegenheit hatte, mit Onkel und Tante Freunde im Thüringer Wald zu besuchen, entwickelte ich vor ’89 nie einen konkreten Bezug zu dem, was hinter dem Zaun war. Das Land, in dem ich lebte, war Deutschland, und das Land hinter dem Zaun hieß DDR. Die mir bekannten geschichtlichen Hintergründe spielten dabei keine Rolle.

Das Bild, das ich als Kind von der DDR hatte, schwankte zwischen Normalität und einer geheimnisvollen Aura. Normalität deshalb, weil die Grenze allgegenwärtig war. Das führte sogar soweit, daß meine Freunde und ich im Winter an der Grenze spielten und Schneebälle in das Niemandsland warfen, weil wir glaubten, dadurch die Detonation einer Mine provozieren zu können! Die geheimnisvolle Aura, weil dort eben ein Zaun war, weil dieser Zaun so wichtig war, daß es nötig wurde, ihn nachts hell zu erleuchten, weil es mit immensem Aufwand verbunden war, hinter diesen Zaun zu gelangen. Warum wurden wir an der im Vergleich winzigen Grenzkontrollstelle Herleshausen fast immer durchgewunken, während wir im gigantischen Wartha für Ein- und Ausreise mehrere Stunden benötigten? Warum erzeugte ich bei meiner Tante große Panik, als ich während der PKW-Kontrolle in eben diesem Wartha die dritte Strophe des –gerade in der Schule gelernten –Deutschlandliedes sang? Warum radelte in Altenburschla jemand mit einer Glocke durchs Dorf, während "öffentliche Bekanntmachungen" in den Orten, die ich "drüben" besucht hatte, per Lautsprecher durchgesagt wurden?

Der Sommer ’89 leitete dann auch bei mir eine Wende ein, die gesamte Thematik wurde mir bewußt. Schließlich ging ohnehin alles Schlag auf Schlag. Nach der eigentlichen Grenzöffnung am 9. November wurden während der folgenden Wochen immer mehr kleinere Grenzübergänge in der näheren Umgebung eingerichtet.

So sollte es auch eines Tages zwischen Wanfried und Katharinenberg geschehen. Schon am Vormittag waren mein Onkel und ich an der Grenze gewesen, doch erst am Nachmittag war es dann endlich soweit, die Sperranlagen waren niedergerissen worden. Wir verschenkten plötzlich Süßigkeiten an wildfremde Kinder. In Katharinenberg angelangt, waren wir bei wiederum wildfremden Leuten zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Noch für denselben Abend war eine Demonstration geplant, die die Öffnung der Grenze zwischen Altenburschla und Großburschla zum Ziel haben sollte. Bei einsetzender Dämmerung liefen wir in einem Fackelzug zum Zaun und schrien: "Die Grenze muß weg!". Schnell bildeten sich auf Thüringer Seite ähnliche Sprechchöre, und am nächsten Tag wurde der Zaun auch bei uns eingerissen.

Wieder stürmten Hunderte von West nach Ost und von Ost nach West. Wieder lagen sich Menschen in den Armen, die sich noch nie gesehen hatten, schenkten sich Blumen und weinten vor Glück. Jedes Wochenende fuhr ich nun mit meinen Eltern in die noch bestehende DDR, aber das Überqueren der Grenzen war langweilig geworden. Auch wenn mir als Sechstklässler damals vieles noch nicht so klar war, so war doch die Bedeutung des Jahres ’89 für mich unverkennbar. In dieser Zeit bildete sich mein Bewußtsein für unser deutsches Vaterland!


 
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