© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Zwanglose Gespräche
Richard Geißler

Unser (meiner Frau und mein) Interesse am Geschehen in der DDR hatte nie nachgelassen, selbst als die letzten Verwandten in Leipzig, woher mein Vater stammte, gestorben waren. Das war in den sechziger Jahren. Seit 1977 lebte unser Sohn in West-Berlin. Bei unseren häufigen Besuchen per Auto oder Zug von Hamburg aus hatten wir einen gewissen persönlichen Eindruck von diesem Teil unseres Landes gewonnen und dabei als sehr schmerzlich empfunden, wie an der Grenze deutsche Grenzer deutsche Reisende, die von einem Teil Deutschlands in einen anderen Teil wollten, kontrollieren mußten. Auch hatten wir ein paar Abstecher nach Ost-Berlin, Rostock und Potsdam gemacht. Geflogen sind wir nie, und zwar aus Trotz, weil deutsche Fluggesellschaften nicht zugelassen waren.

Gleich bei der ersten Durchreise bekamen wir an einer Raststätte verstohlenen Kontakt mit einem jungen Paar, das uns im Vorbeigehen einen Zettel in die Hand drückte. Wir lasen ihn im Auto. Er enthielt nur die Bitte um Kontakt mit "Leuten, die noch deutsch denken". Daraus ergab sich ein reger Briefwechsel, aus dem wir mehr über die Lebensumstände erfuhren als aus den Medien. Die beiden waren Arbeiter, sehr kritisch und gut beobachtend. Einmal trafen wir uns auch in Ost-Berlin. Aber schon nach wenigen Jahren brach der Kontakt ab. Beide waren verhaftet und nach fadenscheinigen Anklagen zu mehrjähriger Haft verurteilt worden. Zum Trost aber wurden sie nach einiger Zeit hierher freigekauft.

So ist es verständlich, daß wir stets regen Anteil an allem nahmen, was in der DDR geschah, und mit heißem Herzen die Ereignisse im Sommer und Herbst 1989 mit den Höhepunkten in Prag und in Ungarn verfolgten. Wir versäumten kaum eine Nachrichtensendung im Radio.

Und so hörten wir auch sofort die Sensationsmeldung vom Schabowski-Zettel, die uns ungemein erregte. Die Ereignisse überschlugen sich nun, nicht nur an der Mauer in Berlin, sondern an der ganzen innerdeutschen Grenze, so daß wir auch am nächsten Tag noch kaum vom Radio wegkamen. Und am Tag darauf sagte ich morgens zu meiner Frau: "Ich möchte heut’ unbedingt nach Lübeck fahren, um Augenzeuge des Empfangs unserer Landsleute ‘von drüben’ zu werden, die dort die Grenze passieren durften." Die Antwort meiner Frau überraschte mich dann doch: "Fahr nach Lübeck, ich fliege nach Berlin!" Natürlich war das der bessere Vorschlag. Sofort wurde telefonisch ein Flug gebucht (ohne auf die Zulassung deutscher Linien zu warten!), und schon am Nachmittag landeten wir in Tegel.

Was uns auf der Fahrt in die Stadt und dann am Kurfürstendamm erwartete, wird uns unvergeßlich bleiben! Welch Gewimmel von Menschen! Welche Stimmung, in der jeder mit jedem zwanglos ein Gespräch begann, in der Hoffnung, jemanden von der anderen Seite zu finden! Und wenn das gelang, all das Fragen und Antworten! Und da gab es eine Gruppe junger Leute, die sich gegenseitig staunend auf den Umfang des Telefonbuches in einer Zelle aufmerksam machten. Da waren die beiden jungen Mädchen aus Wittenberg, die Sorge hatten, ihren Zug nicht mehr zu erreichen, die wir dann auf die S-Bahn-Station geleiteten, wo sie unbedingt ein Foto neben dem Stationsschild haben wollten, das sie dann auch zugeschickt bekamen. Und viele, viele weitere Kontakte, Gespräche und Beobachtungen. Am schönsten schien mir dabei der völlig ungezwungene Umgang miteinander. Hier band sich tatsächlich "wieder, was die Mode streng geteilt".

Am Potsdamer Platz spät in der Nacht wären wir zu gern Zeuge gewesen, wie ein Stück der Mauer abgerissen wurde. Daß daran gearbeitet wurde, sah man, und so wartete eine beträchtliche Menge von Menschen gleich uns darauf. Wir aber waren zu Mitternacht bei der Familie unseres Sohnes angesagt. Dort saßen wir noch lange auf, um unsere Erlebnisse auszutauschen. Mein Sohn war mit seiner Frau auf die Kunde hin, daß an der Bornholmer Straße der Übertritt freigegeben sei, dorthin geeilt. Dort hatten sie rasch Kontakt mit einem Ost-Berliner Paar gefunden, das sie zu sich einluden, wonach auch sogleich der Gegenbesuch stattfand. Wie einfach war das plötzlich! Um all unsere Erlebnisse und Eindrücke zu erzählen, hätten wir die Nacht durchmachen müssen.

Bevor wir am nächsten Tag zurückflogen, gingen wir noch einmal ein Stück an der Mauer entlang, endlich einmal ohne Mißgefühl, denn ihre Tage waren nun ja gezählt. Was uns gestern versagt geblieben war, sahen wir nun: in der Mauer am Potsdamer Platz klaffte eine große Lücke. Unvergeßlich ist auch, wie am Checkpoint Charlie jedes hereinkommende Auto mit Händeklatschen von den vielen, die dort Spalier standen, begrüßt wurde.

Als wir dann vom Flugzeug zur Stadt hinunterblickten, beherrschte uns das beglückende Gefühl, Zeuge eines großen und schönen geschichtlichen Ereignisses gewesen zu sein.


 
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