© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


CD: Pop
Arme Spielmänner
Peter Boßdorf

Wer sich alte Bilder aus der New-Wave-Zeit anschaut oder das Vinyl jener Tage zum Klingen bringt, kann nicht immer nachvollziehen, warum man die ganze Unfertig- und Behelfsmäßigkeit dieses Mummenschanzes hinnahm, bloß weil schlicht das Gefühl einer Erleichterung überwog. Eine Ahnung davon, gegen welch selbstverliebtes Gedudel mit Ambitionen voller Größenwahn damals auch die allerprimitivsten musikalischen Mittel recht waren, vermitteln jetzt, nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal in dieser Scheinheiligkeit die vier britischen Musiker mit dem Sammelnamen Anathema auf ihrer neuesten CD "Judgement" (Music for Nations). Ihnen hört man in der Tat an, daß sie in ihrer Jugend gerne Pink Floyd gehört haben sollen, aber noch mehr hört man heraus, daß sie den Sprung vom Fan zum Künstler zumindest in diesem Metier nicht geschafft haben. Daß atmosphärische Intensität binnen Sekunden in entzaubernde Banalität umkippen kann, weiß der Musikgeschädigte beispielsweise aus so manchen Abstürzen von The Mission. Bei Anathema ist der Tiefpunkt schon nach den ersten zehn Sekunden des ersten Stücks, dann nämlich, wenn der Gesang einsetzt, erreicht – und wird bis zum Ende dieser Zeitverschwendung tapfer verteidigt. Die eigentliche Virtuosität liegt darin, die langweiligsten musikalischen Anleihen mit den kitschigsten Posen aus dem Repertoire der Tiefgangvortäuschung kombiniert zu haben.

Den Weg in die Belanglosigkeit haben die Tindersticks hingegen erst angetreten, doch konnten sie mit "Simple Pleasure" (Quicksilver/ Universal-Island) bereits einen Großteil zurücklegen. Die Aufreihung beiläufiger und doch hochkonzentrierter musikalischer Selbstgespräche ohne Anspruch auf Verständlichkeit, aber mit nachvollziehbaren Stimmungswechseln und schnell überschlagendem Funken ist leider, immerhin nach drei bis vier CDs, die noch lange faszinieren werden, Vergangenheit. Jetzt hat der Konsument der neuen Tindersticks beinahe eine Szene aus einem Blur-Video vor Augen: Alle möglichen Leute stehen bunt gemischt und mit guten Vorsätzen, die aus leuchtenden, fast schon feuchten Augen sprechen, nebeneinander, wackeln mit den Hinterteilen, schnippen mit den Fingern und singen dazu voller Wärme "Oh Lord" oder etwas ähnliches. Das ist widerlich, das ist Klassenkampf von oben, das ist Versöhnung um jeden ästhetischen Preis. Vielleicht ist dies der Tribut an ein abgespecktes Arrangement, vielleicht stand aber auch die Befürchtung dahinter, die Pose fortwährender Zerrissenheit könnte der Band als Stillstand ausgelegt werden. Dann hätte sie jedoch unnötigerweise tiefgestapelt.

Dieser Vorwurf kann gegen die fünf Auch-Briten von Gomez nicht erhoben werden. Sie gelten schon seit ihrem Debüt "Bring It On" als intelligent und damit reif für Viva 2, das dazugehörige Video schien darauf zu bauen, Erinnerungswerte und damit Marktpräsenz zu schaffen. Dreihunderttausendmal ging die Rechnung auf, so viele lässige Menschen gibt es alleine in UK – wie viele mehr mögen es nun auf dem Kontinent sein, den "Liquid Skin" (Virgin) nehmen soll. Die Musiker von Gomez haben offenbar genau zugehört und verstanden, bevor sie die zahllosen Traditionslinien, die ihnen irgendwie verwertbar erschienen, zusammenknoteten. Gomez setzt auf eine Zielgruppe, der die Bindung zur Musik abhanden gekommen ist. Für sie gibt es jetzt das Sonderangebot für Schnellhörer: Es ist schön, das alles einmal so kompakt zu haben.


 
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