© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Deutsche Einheit: Das ZK-Dokument zur Analyse der ökonomischen Lage der DDR
Geheime Verschlußsache 0247/89
Alfred Keck

Im Jahre 1936 verfügte der Osten Deutschlands über höhere Einkommen (Wirtschaftsleistung je Einwohner in Preisen des Jahres 1989 gerechnet) als der Westen Deutschlands. Das sollte sich in der Nachkriegszeit ändern; vor allem durch die enormen Demontagen und Reparationszahlungen der SBZ an die UdSSR, aber auch durch die Verluste der Umwandlung der politischen, wirtschaftlichen Verhältnisse (Enteignungen, Bodenreform, Mangel an Rohstoffen, Energieressourcen usw.) der östlichen "Rumpfwirtschaft" rutschte das Gebiet der DDR schon im Jahre 1950 gegenüber der Bundesrepublik in der Wirtschaftskraft je Einwohner auf geschätzt rund 50 Prozent ab.

Die Wirtschaftskrise verschärfte sich, und allein in den letzten drei Jahren (1987–1989) importierte man 13 Milliarden Valutamark mehr, als exportiert werden konnte. Anfang 1989 wurde der Wirtschaftsbankrott ganz offensichtlich.

Die "Abrechnung des Volkswirtschaftsplanes" für das Jahr 1988 zeigte ein äußerst düsteres Bild, "schwerwiegende Planrückstände". Die Deformationen der DDR-Volkswirtschaft brachen mit Brachialgewalt hervor. Die seit langer Zeit schwelende Wachstums- und Strukturkrise, die Ineffizienz der Betriebe wies gegenüber den "Fünfjahres-Planzielen 1985–1990" ein Defizit an "geplantem Sozialprodukt" von 25 Milliarden auf. Das erhöhte sich bis Ende 1989 auf rund 36 Milliarden DDR-Mark. Die Exportrentabilität wurde immer schlechter, so daß für eine "Valutamark" durchschnittlich 4,4 DDR-Mark aufgebracht werden mußten.

Etwa zwei Drittel des Zuwachses an Binnennachfrage beruhten auf inflationistischen Preiserhöhungen. Der permanente Kaufkraftüberhang – die DDR-Bevölkerung verbrauchte immer mehr als erwirtschaftet wurde – ging in die Milliarden.

Die jahrzehntelange abenteuerliche Subventionspolitik des SED-Staates hatte eine gigantische Höhe von 110 Milliarden Mark, je Familie und Jahr 16.000 Mark, erreicht, wurde Ursache von Rundum-Sorglos-Versorgungsmentalität, Nomenklatura-Privilegien, Sozialmißbrauch und Korruption. Viele "Westbesucher" kehrten nicht zurück. Der "Aderlaß" an Humankapital war enorm, und die wirtschaftlichen Defizite durch Ausreise und Flucht wirkten wie ein Drehmoment des Abstieges. Arbeitsmoral und Arbeitsorganisation sanken.

Sozialpolitik ging zu Lasten wachsender Verschuldung

Am 17. Oktober 1989 erteilte Honeckers Nachfolger Egon Krenz dem Planungschef Gerhard Schürer, den Finanzminister Ernst Höfner, dem Staatssekretär im Ministerium für Außenhandel, Alexander Schalk (als Spezialist für Devisenbeschaffung) und dem Chef der Zentralverwaltung für Statistik, Arno Donda, alles Führungsleute der SED, den Auftrag, "ein ungeschminktes Bild der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen vorzulegen". Am 27. Oktober 1989 wurde dieses "Geheimdokument" mit einem Dutzend persönlich bestimmten Exemplaren an Krenz übergeben. Es sollte unter der Erwartung, daß die DDR weiterbestehe, am 31. Dezember 1989 vernichtet werden.

Die DDR zerbrach in erster Linie an ihrer ideologisch-doktrinär, nach dem Sowjetmodell ausgerichteten Wirtschaft sowie ihrer isolierten Anbindung an den Ostblock. So versuchte sie eine "autonome Mikroelektronik" zu schaffen, die viele Milliarden Mark an eigenem Entwicklungsaufwand verschlang, weil auch das westliche High-Tech-Embargo wirkte. Das "Geheimdokument" sprach davon, daß allein dieses "Experiment" drei Milliarden Mark pro Jahr an Subventionen verschlang. Die Landwirtschaft (eine Vorzeigebranche der DDR, die zu 90 Prozent den Eigenbedarf sicherte) war in einer Krise, und so mußten Getreideimporte aus dem "Nichtsozialistischen Währungssystem" erfolgen. Das war teuer, verschärfte das chronische Handels- und Zahlungsdefizit.

Das Dokument machte die marode Verkehrslage deutlich, zeigte den unglaublichen Verschleißgrad des Autobahn- und Straßenwesens. Das "Verkehrsprojekt Deutsche Einheit" in den Jahren 1990 bis heute hat gezeigt, daß damals die Lage sogar noch beschönigt wurde.

Auch das Vorzeigeprojekt "sozialer Wohnungsbau" entpuppte sich als ein Potemkinsches Dorf, konnten doch in vielen Städten und Kommunen nicht einmal "die dringendsten Reparaturmaßnahmen durchgeführt werden". Die führenden DDR-Wirtschaftsexperten, samt Protagonisten des Systems, kamen zu der realistischen Einschätzung, daß das "System der Leitung und Planung nicht mehr funktioniert", "Subjektivismus zu Disproportionen und zu einem System aufwendiger administrativer Methoden, zu übermäßigem Planungs- und Verwaltungsaufwand geführt hatte". Der einst hochgejubelte "demokratische Zentralismus" wurde nun zum Bremsklotz für "mangelnde Wirtschaftslichkeit und Effizienz" benannt, der den Unternehmen das "Rückgrat" gebrochen habe, die Kosten nicht gesenkt, sondern erhöht hat, so, daß die internationale Wirtschaftsfähigkeit ausblieb, ökonomische und Preis-Markt-Regelungen, gesunde Wirtschaft von Mittelbetrieben und örtliche Versorgungswirtschaft – mit chronischen Versorgungsdefiziten – keine Chancen hatten.

Die DDR zerbrach an vielen ihrer Widersprüche zwischen Ideal, Visionen und realer Wirklichkeit. So sagte Lenin: "Die Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das Allerwichtigste des Sieges des Sozialismus über den Kapitalismus." Und er irrte sich nicht, nur verlief es umgekehrt. Das Dokument spricht: "Im internationalen Vergleich liegt die DDR gegenwärtig um 40 Prozent hinter der BRD zurück", was sich schon Ende 1990 mit dem Zusammenbruch auf 60 Prozent erhöht haben dürfte. Die Kritik an der "Nutzung der Vollbeschäftigung" war eher zurückhaltend. Es wurde offensichtlich aus opportunistischen Gründen der Autoren verschwiegen, daß der Staats-, Partei- und Gewerkschaftsapparat, die NVA, die Polizei, die Staatssicherheit, das "Grenzregime" und andere paramilitärischen Verbände nach Einschätzung der Autoren 30 bis 40 Prozent des "Sozialproduktes der DDR" regelrecht verschlangen.

Das Dokument kritisiert auch die verfehlte "Investitionspolitik", die die Grundlagen jeglicher Effizienz zerstörte und den "Überbau" zu einem Januskopf auswachsen ließ. So wurde der Verschleißgrad angegeben: Industrie = 53,8 Prozent, Bauwesen = 67 Prozent, Verkehrswesen = rd. 52 Prozent, Land-, Forst-Landwirtschaft = rd. 61 Prozent. Zu Recht sprach man von der "maroden Wirtschaft".

Nach den obersten "Wirtschaftsweisen der Noch-DDR" stieg die Verschuldung im nichtsozialistischen Währungssystem von zwei Milliarden Valuta -Mark 1970 auf 49 Milliarden Valuta -Mark am Ende der DDR an. Daraus wurde völlig zu Recht geschlußfolgert, daß die "DDR-Sozialpolitik auf Pump und zu Lasten wachsender Auslandsverschuldung beruhte, was zu unverhältnismäßig hohen Geldeinnahmen der Bevölkerung führte, die nicht mehr durch ein entsprechendes Warenangebot gedeckt werden konnten, Mangelerscheinungen" zur Dauerbelastung werden ließen. Spätere realere Analysen sprechen von 30 bis 35 Milliarden Mark regelrecht "vagabundierender Kaufkraft".

Der DDR-Staat finanzierte seine Ausgaben auch immer mehr durch innere Verschuldung. Im "Geheimdokument" heißt es dazu unter anderem: "Die Verbindlichkeiten des Staatshaushaltes (alle öffentlichen Körperschaften und Finanzbeziehungen zu volkseigenen Betrieben d. Verfasser) gegenüber dem Kreditsystem entwickelten sich ... von rund 12 Milliarden Mark 1970 auf 43 Milliarden 1980 und 123 Milliarden 1988." Und diese "innere Verschuldung" wurde von den Experten auf etwa 140 Milliarden Mark für Ende 1990 eingeschätzt, in zwanzig Jahren eine Steigerung auf 325 Prozent. Bezogen auf ein geschätztes "Sozialprodukt" der DDR, hatte der DDR-Staatshaushalt im Jahre 1970 eine innere Verschuldungsrate von etwa 14 Prozent und 1989 zwischen 36 und 38 Prozent.

Im Dokument wird den Fragen von Export/Import ein Schwerpunkt gewidmet. Es heißt zudem: "Bereits in den Jahren 1971–1980 wurden 21 Mrd. Valutamark mehr importiert als exportiert. (…) Im Zeitraum 1981–1985 wurden Exportüberschüsse mit der Ablösung von Heizöl durch Braunkohle und Export von Erdölprodukten zu günstigen Preisen erzielt, was zur rigorosen Aushöhlung der Braunkohlevorkommen, zu riesigen Umweltschäden, Zerstörung ganzer Landschaften führte. Die Auslandsverschuldung betrug 1986 etwa 28 Milliarden Valutamark. Der Export wurde immer uneffektiver. Allein, so das Dokument, die "Kosten und Zinsen für Kredite" betrugen in den Jahren 1986–1988 13 Milliarden Valutamark, was zur damaligen Zeit einem Zweijahreszuwachs des Bruttoinlandsproduktes der DDR gleichkam.

Und am Ende des Jahres 1989 mußte mit einer Auslandsverschuldung von 49 MilliardenValutamark gerechnet werden, was "damit etwa dem Vierfachen des Exportes des Jahres entspricht". Es heißt dann: "Das bedeutet, daß die fälligen Zahlungen von Tilgungen und Zinsen, d.h. Schulden mit neuen Schulden bezahlt werden." Für 1990 rechneten die Verantwortlichen sogar mit ca. 57 Milliarden Valutamark "Auslandsschulden" und mit über acht Milliarden für "Kosten und Zinsen". Die Schuldendienstrate (international mit 25 Prozent akzeptabel) hatte die Höhe von 150 Prozent erreicht.

"Man müßte den Zuwachs des Nationaleinkommens von drei Jahren aufbringen, um den Anstieg des Verschuldungssockels zu verhindern", hieß es. Man sprach von einer "Reduzierung der Konsumption um 25 bis 30 Prozent.

Das Dokument brachte in Anbetracht der "bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit" ein "Moratorium" (Umschuldung) ins Gespräch, bei dem der "internationale Währungsfonds (IWF) bestimmen würde,was in der DDR zu geschehen hat". Und weiter: "Solche Auflagen sind mit der Forderung auf dem Verzicht des Staates, in die Wirtschaft einzugreifen, der Reprivatisierung von Unternehmen, der Einschränkung der Subventionen mit dem Ziel, sie gänzlich abzuschaffen, den Verzicht des Staates, die Importpolitik zu bestimmen verbunden." Man kam zu dem Schluß: "Es ist alles zu tun, damit dieser Weg vermieden wird."

Die Wirtschafts-Obristen machten Krenz Reanimationsvorschläge. Es sei "eine grundsätzliche Änderung der Wirtschaftspolitik ....verbunden mit Wirtschaftsreformen" erforderlich. Man dachte an höhere Investitionen, einen drastischen Abbau von Beschäftigten in "Verwaltungen, die Entlassung hauptamtlicher Funktionäre, die Bekämpfung maßloser Schluderei, grundlegende Änderungen in der Subventions- und Preispolitik, Abbau des Kaufkraftüberhanges bei der Bevölkerung, rigorose Senkung des bürokratischen Aufwandes des Planungssystems mit De-Regulierung und Entzentralisierung...". Die "Rolle des Geldes als Maßstab für Leistung, wirtschaftlichen Erfolg oder Mißerfolg ist wesentlich zu erhöhen".

Die Bombe des Geheimdokumentes war: "Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 - 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen. Selbst wenn das der Bevölkerung zugemutet würde, ist das erforderliche exportfähige Endprodukt in dieser Größenordnung n i c h t aufzubringen." Das war die de facto Bankrotterklärung der vier führenden DDR-Wirtschaftsmächtigen an den neuen Generalsekretär der SED, Egon Krenz, der wohl noch auf ein "Wunder" rechnete.

Offensichtlich real einschätzend, daß die DDR wirtschaftlich so wie bis dato nicht weiter existieren konnte, sah das zweiundzwanzigseitige Geheimdokument vor: "Es ist ein konstruktives Konzept der Zusammenarbeit mit der BRD und mit anderen kapitalistischen Ländern wie Frankreich, Österreich, Japan, die an einer Stärkung der DDR als politisches Gegengewicht zur BRD interessiert sind, auszuarbeiten. (…) Es sind alle Formen der Zusammenarbeit mit Konzernen und Firmen der BRD sowie anderen kapitalistischen Ländern zu prüfen, mehr Waren für den Außen- und Binnenmarkt aus der Leistungssteigerung bereitzustellen. (…)Die DDR ist interessiert, mit Konzernen und Firmen der BRD und anderer Ländern zu kooperieren, Lizenzen und Technologien zu übernehmen..., Leasinggeschäfte durchzuführen sowie die Gestattungsproduktion (Westprodukte in der DDR mit Westmarken und Westtechnologie herzustellen und zu verkaufen, A.K.) weiterzuentwickeln, wenn der Aufwand refinanziert und ein Gewinn erreicht werden kann."

Reformversuche sollten nur die Wirtschaft verbessern

Alles das und mehr zeigt, die Noch-DDR war in höchster wirtschaftlicher Not, stand direkt am Abgrund, so daß man nahezu alle alten Ideologien, "sozialistischen Grundsätze" über Bord werfen wollte. Die "Reformmaßnahmen" waren rein ökonomischer Natur und deshalb im DDR-Machtsystem undurchführbar. Veränderungen in der Gesellschaftspolitik fürchteten sich die DDR-"Wirtschaftsweisen" wohl vorzuschlagen, befangen in den eigenen Systemdoktrinen.

Sie setzten auf "Fortbestehen der UdSSR, des Warschauer Paktes, des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, der DDR als Land des Sozialismus, weiterhin auf die führende Rolle der SED...". Und so hieß es dann auch unter anderem: "Dabei schließt die DDR jede Idee von Wiedervereinigung mit der BRD oder eine Schaffung einer Konföderation aus." Das war wohl mehr eine politische Rückversicherungsformulierung der vier "Wirtschaftsmächtigen" gegenüber der noch existierenden politischen Macht des Politbüros.

 

Prof. Dr. Alfred Keck 71, studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Halle und Berlin. Von 1968 bis 1989 lehrte er an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin.


 
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