© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Interview: Eine Frau spricht über ihre Abtreibung, ihre Alpträume und Schuldgefühle
"Ich würde es nicht wieder tun"
Gerhard Quast

Sie haben vor einigen Jahren ein Kind abgetrieben. Hätten Sie sich das jemals vorstellen können?

Nein, das war für mich undenkbar. Ich bin zu einer Zeit großgeworden, als in der Schule Aufklärung großgeschrieben wurde. Diese Aufklärung beinhaltete auch die Entwicklung des Ungeborenen im Mutterleib. In dem Film "Der stumme Schrei" sahen wir, wie ein Kind heranwächst, wie jeder Tag aussieht, wie die Finger sich entwickeln, und die Füße. In der Schlußsequenz hieß es dann: "Und heute hat sie mich abgetrieben". Das war für mich damals absolut schockierend, weil ich gedacht habe, das würde für mich nie in Frage kommen, ganz gleich, was passieren würde.

Und trotzdem sind Sie in eine Situation gekommen, daß etwas Undenkbares denkbar wurde.

Ja, aber das war für mich bis zu diesem Zeitpunkt fernab jeder Realität.

Wie ist bei Ihnen die Scheinvergabe verlaufen? Wurden Sie dazu angehalten, die Abtreibung noch einmal zu überdenken?

Die Beratung war meiner Meinung nach sehr einfühlsam. Was ich aber nicht wußte – man geht da ja das erste Mal hin – war die Tatsache, daß keine Alternativen geboten werden. Ich war also in Schwierigkeiten irgendwelcher Art, doch eine Alternative wurde nicht aufgezeigt. Ich wurde vor allem nach meiner momentanen Befindlichkeit befragt. Entsprechend kurz war das Gespräch. Nach einer Viertelstunde war alles vorüber. Und was mir – im nachhinein – ganz entscheidend vorkam, am Schluß wurde ich gefragt: "Was, meinen Sie, hat das kommende Leben für einen Sinn, wenn Sie abtreiben? Denken Sie einmal darüber nach." Dann bekam ich den Schein und einen Zettel mit Anschriften mehrerer Ärzte, die das dann durchführen.

Was hatten Sie für ein Gefühl vor und während der Abtreibung?

Ich hatte ja eine Vollnarkose gewünscht, und nicht nur eine örtliche Betäubung. Das Gefühl davor war eigentlich, ich will das hier nicht, ich darf das nicht machen lassen. Während der Abtreibung hatte ich keine Gefühle. Aber die Ärztin, die die Blutentnahme und die Narkose geleitet hat, hat mir danach gesagt, ich wäre grauenhaft verkrampft gewesen. Sie wären an mich fast gar nicht herangekommen. Während der Abtreibung hatte ich selbst keine Gefühle, dafür aber um so mehr danach.

Was war Ihr erster Gedanke, als Sie aus der Narkose aufgewacht sind?

Sofort stellte sich bei mir Entsetzen ein, blankes Entsetzen: Was habe ich gemacht?! Die ersten ein, zwei Tage steht das einem dann richtig vor Augen. Bei der Ultraschalluntersuchung habe ich das Kind ja gesehen, und man selbst spürte irgendwie, da wächst etwas heran. Danach blankes Entsetzen: Das kann man nicht wieder gutmachen. Dann ist es einfach nur möglich weiterzumachen, indem man runterschluckt und sich zwingt, nicht mehr daran zu denken. Und dann ist es einzig und allein in Träumen, wo es immer hochkommt.

Was sehen Sie in Ihren Träumen?

Obwohl ich es nicht wissen kann, weiß ich, daß es ein Mädchen war. Und in meinen Träumen sehe ich, wie es in einen Mülleimer geworfen wird. Und zwar vollständig als Baby. Und das kann ja nicht sein.

Wann haben sich diese Träume eingestellt?

Etwa zwei Wochen danach hat es angefangen. Also relativ schnell. Ich habe damals auch tagsüber den Gedanken daran verdrängt. Ich habe mich auch gezwungen, wirklich keinen Moment daran zu denken, richtig gezwungen. Wenn die Erinnerung an die Abtreibung hochkam, habe ich mir gesagt: Nein, das will ich nicht. Denn ich habe gemerkt, das halte ich nicht aus. Wenn ich darüber nachdenke, kann ich nicht weiterleben... Und ich meine auch, daß es sich in der späteren Zeit niedergeschlagen hat, daß ich den Lebensmut verloren habe.

Wie lange haben diese Träume angehalten?

Sie halten immer noch an, auch die psychischen Probleme. Es ist, als wenn die Seele zersplittert. Man ist nicht mehr fähig, mit Gefühlen zu reagieren. Entweder hat man sich einen Schutzpanzer zugelegt, oder aber es ist etwas kaputtgegangen. Die Empfindungen sind kaputt. Ich habe das Gefühl, als sitze ich hinter einer Glaswand. Und dieses Gefühl haben auch Menschen, mit denen ich umgehe. Ich bin vom Gefühl nicht mehr da. Oder besser: Ich bin lange Zeit nicht mehr dagewesen. In letzter Zeit geht es einigermaßen, so daß ich auch wieder darüber nachdenken kann: Es war so, du trägst es ewig mit dir herum, du kannst es nicht reparieren, aber du kannst es gedanklich betrachten. Alles was früher für mich von Bedeutung war, wo ich mit Hingabe dabei war, ist wie zerrissen, ob das ganz normale Lebensabläufe sind oder Beziehungen. Es ist, als wenn etwas weggebrochen ist. Ich vertraue auf nichts mehr. Ich habe nicht mehr die Tiefe des Gefühls. Ob das ganz banale Dinge wie Essenkochen sind, das Gefühl ist weg. Das ist ein mechanischer Vorgang. Das Leben ist irgendwie ein mechanischer Vorgang geworden. Ich weiß nicht, ob das daran liegt, daß man sich selbst nicht verzeiht.

Wie denken Sie heute über Ihre Situation?

Ich hätte es, entgegen aller Widrigkeiten, nicht tun dürfen. Es gibt keinen Grund, da einzugreifen.

Werden die Probleme der Frauen, die abgetrieben haben, ernst genommen?

Die werden gar nicht wahrgenommen. Und das Problem ist, daß nicht nur Frauen an der Abtreibung leiden. Ich meine, auch der Mann leidet unter der Abtreibung. Auch die Männer entleeren sich dem Sinn des Lebens, indem sie einer Abtreibung zustimmen.

Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten…

… dann würde ich Möglichkeiten finden, die ich damals nicht gesehen habe. Das Problem ist die Schnelligkeit. Diese Momente, daß du dich innerhalb von wenigen Tagen entscheiden mußt.

Die Situation, so aussichtlos Sie sie damals empfunden haben, ...

… so aussichtslos war sie in der Realität nicht. Das war keine Rechtfertigung, um ungeborenes Leben zu zerstören. – Das schreckliche ist, im Geist ziehst du das Wesen heran, du zählst die Jahre mit, du siehst es sich entwickeln. Das wäre zum Beispiel jetzt die Einschulung.

Was empfinden Sie dabei, wenn Frauen bekennen, daß sie abgetrieben haben und sie ihre Handlungsweise nicht bereuen?

Das nehme ich ihnen nicht ab. Meiner Ansicht nach ist das ein Schutzmechanismus, weil sie sonst nicht weiterleben können. Die Gefahr besteht aber, daß dieser Schutzmechanismus irgendwann aufbricht, zum Beispiel in Beziehungskrisen. Eine Abtreibung ist kein kleiner Eingriff. In Wirklichkeit ist es mehr: Das Leben verliert seinen Sinn. Über die Abtreibung selbst kommt der Körper schnell hinweg, erstaunlich schnell, aber die Seele hat Schaden gelitten. Und das trägst du ein Leben lang mit dir herum.

Haben Sie sich von dem Mann allein-gelassen gefühlt?

In gewisser Weise ja. Im nachhinein habe ich gedacht, warum haben wir darüber nicht mehr geredet, über die Möglichkeiten an sich, was sein könnte, im positiven Sinne. Aber es mußte alles schnell gehen. Wir haben uns von allen möglichen Dingen bedrängen lassen, aber in der Rückschau hat es nicht wirklich einen triftigen Grund für die Abtreibung gegeben. Es ist bei mir auch ein ganz langsamer Prozeß gewesen, daß ich heute darüber reden und mich irgendwie versöhnen kann. Und mir persönlich hat es geholfen, daß ich mich wieder Gott zugewandt habe, ganz intensiv.

 

Der Name der Frau, die hier aus verständlichen Gründen ungenannt bleiben will, ist der Redaktion bekannt.


 
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