© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Krieg in Tschetschenien: Rebellenführer Schamil Bassajew ist zum Alptraum Moskaus geworden
Rußlands Staatsfeind Nummer eins
Michael Wiesberg

Der Bandit muß vernichtet werden, er hat schon zuviel Unglück über Rußland und sein eigenes Volk gebracht." Und: "Wer immer uns Bassajew bringt, erhält eine Million Dollar, egal, ob Russe oder Tschetschene." Mit diesen Worten zitiert das Hamburger Abendblatt am 27. Oktober den russischen Kommandeur der Truppen in Dagestan, Gennadi Troschew. Keine Frage, der Rebellenführer und derzeitige Feldkommandeur der tschetschenischen Truppenverbände, Schamil Bassajew, wird aus russischer Sicht mehr und mehr zum Synonym für terroristische Anschläge. Das Kopfgeld, das jetzt auf Bassajew ausgesetzt worden ist, und die erneute Offensive der russischen Armee in Tschetschenien, zeigen, daß die Auseinandersetzungen eine neue Eskalationsstufe erreicht haben, die mehr und mehr an den ersten Tschetschenienkrieg (1994–96) erinnert.

Daß der erste Tschetschenienkrieg verlorenging, ist auch und gerade Bassajew zuzuschreiben, dessen Name im Juni 1995 einer breiteren Öffentlichkeit im Zusammenhang mit den blutigen Ereignissen von Budennowsk schlagartig bekannt wurde. Damals nahm Bassajew mit einer Reihe von Rebellen in einem Krankenhaus ca. 1.500 Geiseln. Seitdem gilt er als Inbegriff eines skrupel- und gewissenlosen Terroristen.

Daß Bassajew eine derartige Karriere einschlagen könnte, war in keiner Weise absehbar. Nach Absolvierung einer zweijährigen Wehrpflicht in der sowjetischen Armee arbeitete Bassajew zunächst in der Kolchose Aksaisky in der Region Wolgograd. 1987 immatrikulierte er sich am Landwirtschaftlichen Institut in Moskau. Bassajew wollte Agraringenieur werden.

Warum Bassajew schließlich kein Examen abgelegt hat, ist umstritten. Laut einer Quelle wurde er wegen mangelnder Fortschritte im Studium zwangsexmatrikuliert. Bassajew selbst behauptet, aufgrund seiner tschetschenischen Herkunft diskriminiert worden zu sein.

So abwegig ist diese Version nicht. Diskrimierungen von Menschen kaukasischer Herkunft in der Sowjetunion sind vielfach belegt, (Moscow News, 30. Juni/6. Juli 1995). In Bassajews Moskauer Studienzeit begann der Zerfall der Sowjetunion, deren Völker auf eine größere Unabhängigkeit von Moskau drängten und sich mehr und mehr auf ihre Geschichte besannen, die als Geschichte der Unterdrückung durch die Russen dargestellt wurde.

Ein Sowjetsoldat steigt zum Feldkommandeur auf

Im August 1991 drohte dieser Prozeß durch den Versuch eines kommunistischen Staatsstreiches in Moskau beendet zu werden. Genau in diesen Tagen befand sich auch Bassajew in Moskau. Bassajew, bewaffnet mit einigen Handgranaten, schlug sich sofort auf die Seite des gerade zum Präsidenten gewählten Boris Jelzin. Er assistierte bei den Kampfhandlungen zwei Generälen, die später seine Gegner sein sollten: Lebed und Gratschow. (Lidove noviny, 18. Juli 1995).

Die Ausläufer der mißglückten Staatsstreiches in Moskau waren bis nach Tschetschenien zu spüren, wo die dortigen Kommunisten die Moskauer Frondeure unterstützen. Die tschetschenischen Nationalisten nutzten die Situation erfolgreich, um ihre Macht zu festigen. Nach dem Parlaments- und Präsidentschaftswahlen verkündete der neu gewählte Präsident Dudajew am 2. November 1991 die Unabhängigkeit Tschetscheniens. Jelzin verhängte daraufhin den Ausnahmezustand über Tschetschenien. Gleichzeitig wurden russische Truppen bereitgestellt, um den abtrünnigen Dudajew in Arrest zu nehmen.

Bassajew war sich klar, daß die etwa 60.000 Freiwilligen, die sich zusammenfanden, für einen erfolgreichen Widerstand gegen die Russen nicht ausreichen würden. Er entführte daraufhin mit einer Handvoll Komplizen ein Passagierflugzeug und drohte, sollten sich die Russen weigern, den Ausnahmezustand aufzuheben, das Flugzeug in die Luft zu sprengen, (Y.V. Nikolajew, "The Chechen Tragedy", New York 1996, S. 63). Die Invasion Tschetscheniens kam schließlich deshalb nicht zustande, weil sich das russische Parlament weigerte, eine entsprechende Weisung für die Invasion Tschetscheniens zu ratifizieren. Bassajew aber hatte zum ersten Mal unmißverständlich klar gemacht, daß er mit allen Mitteln die Unabhängigkeit Tschetscheniens zu verteidigen bereit ist.

In den nächsten zwei Jahren sammelte Bassajew bei den Konflikten um Berg-Karabach und Abchasien weitere Kampferfahrung. Zusätzlich zu seiner steigenden Routine bei bewaffneten Auseinandersetzungen absolvierte er in Afghanistan und Pakistan eine Ausbildung zum "Gotteskrieger". Spätestens bei den Kämpfen in Abchasien wurde er russischen Militärspezialisten nachhaltig bekannt. (Stanislaw Lunew, "Chechen Terrorists - Made in the USA", Jamestown Prism, 26. Jan. 1996)

Im Februar 1994 kehrte Bassajew nach Tschetschenien zurück. Er hatte inzwischen eine Elite-Einheit von tschetschenischen Kämpfern geschaffen, die ihm bedingungslos ergeben waren. Weitere Freiwillige stießen hinzu.

Im Sommer 1994 verschärften sich die Spannungen mit Rußland erneut. Die russische Regierung beschuldigte Dudajew, einen Verbrecherstaat errichtet zu haben. Die Spannungen stiegen von Tag zu Tag. Im August 1994 versuchten schwerbewaffnete Putschisten mit russischer Unterstützung Dudajew aus dem Sattel zu heben. Sie hatten ihre Rechung ohne Bassajew gemacht. Dieser war maßgeblich daran beteiligt, daß sich die Putschisten nicht durchsetzen konnten. Daraufhin drangen am 11. Dezember 1994 reguläre russische Truppen in Tschetschenien ein.

Bassajew und seine Elite-Kämpfer waren nicht unvorbereitet. In den folgenden 21 Monaten, dem ersten Tschetschenienkrieg, sollten sie eine Schlüsselrolle spielen. Dies mußte mehr und mehr auch das russische Militär anerkennen, das Bassajew immer wieder davon zu überzeugen suchte, den Kampf aufzugeben. Bassajew aber blieb unbeugsam. (Francisco Herranz, We should spit on the Entire World..., El Mundo, 2. März 1996)

Der größte Coup gelang Bassajew im Juni 1995 in Budennowsk, als der Krieg in Tschetschenien bereits sechs Monate tobte. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die tschetschenischen Kämpfer in einer sehr kritischen Phase. Führende russische Militärs gingen bereits davon aus, daß der Krieg bald zu Ende sein würde. Der Kommandeur der russischen Einheiten in Tschetschenien, Kulikow, urteilte, "daß die Phase der aktiven Kampfhandlungen in Tschetschenien vorbei ist", (Ruspress, 20. Juni 1995). Dudajew war da völlig anderer Auffassung: "Der Kampf ist nicht vorbei, er wird nur andere Formen annehmen." (Itar-Tass Report, 14. Juni 95)

Totaler Krieg gegen die Hegemonialmacht Rußland

Diese "andere Form des Kampfes" hatte einen Namen: Schamil Bassajew. Kurz vor dem militärischen Schachmatt der Tschetschenen entwickelte er einen risikoreichen Plan, der die russischen Operationen zumindest aufhalten sollte. Bassajew plante, auf russischem Territorium eine möglichst große Anzahl von Geiseln in seine Gewalt zu bringen. Verborgen in zwei Lastwagen, die als Transport gefallener russischer Soldaten getarnt waren, und eskortiert von einem primitiv zu einem Polizeiwagen umgespritzten Wagen, sickerte Bassajew zusammen mit 150 Kämpfern am 14. Juni 1995 in russisches Territorium ein. Ziel der Operation war Budennowsk, eine Stadt, die120 Kilometer von der tschetschenischen Grenze entfernt ist.

Bis in die Außenbezirke der Stadt verlief alles nach Plan. Nach einem Routinestop aber wurden die Fahrer des Konvois durch die örtliche Polizei aufgefordert, ihr zum Militärhauptquartier zu folgen. Als sich der Konvoi dem Hauptquartier näherte, sprangen die Tschetschenen aus den Lastwagen, erschossen eine Reihe von Polizisten, und besetzten das Hauptquartier. Als nach weiteren Feuergefechten eine Reihe von Rebellen verletzt worden war, entschlo· sich Bassajew, in das Krankenhaus der Stadt einzudringen. Rund 1.500 Patienten und medizinisches Personal fielen in die Hände der Rebellen, die mit diesem Pfund zu wuchern wußten.

Bassajew hätte den Zeitpunkt für seinen Coup nicht besser wählen können. Einmal wieder war Rußland zu diesem Zeitpunkt auf die aktive finanzielle Unterstützung der G7-Staaten angewiesen. Die nächsten Verhandlungen im kanadischen Halifax standen kurz bevor. Jelzin hoffte, daß der Krieg bis zu diesem Treffen beendet sein würde. Dies hätte seine Verhandlungen erheblich erleichtert. Die Ereignisse von Budennowsk signalisierten aber der Öffentlichkeit genau das Gegenteil. Eilig wurden deshalb in Budennowsk Armeeverbände und Truppen des Innenministeriums zusammengezogen. Dessen ungeachtet verkündete Bassajew seine Bedingungen, wenn die Geiseln freikommen sollten: Beendigung der Kämpfe in Tschetschenien, Rückzug der russischen Truppen und Aufnahme von Verhandlungen mit dem tschetschenischen Präsidenten Dudajew.

Die Russen wollten aber nicht verhandeln. Sie entschlossen sich statt dessen dafür, das Hospital zu stürmen. Bassajew machte unmißverständlich klar, daß die Geiseln ermordet werden würden, sollten die Russen das Hospital stürmen. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Am 16. Juni 1995 traf Jelzin lächelnd und winkend zum G7-Treffen in Halifax ein. Am 17. Juni erlebten die russischen Spezialeinheiten ihr Waterloo in Budennowsk. Bei dem Versuch, das Hospital zu stürmen, wurden Hunderte von Geiseln getötet, wobei es nicht festzustellen war, ob diese schließlich durch russische oder tschetschenische Kugeln umkamen. (Otto Latsis, "Brutality breeds nothing but brutality", Iswestja, 20. Juni 1995)

Bassajew verlor trotz dieses Massakers nicht den Sinn für Gesten. Er ließ öffentlichkeitswirksam 150 schwangere Frauen und Kinder frei und behielt schließlich die Oberhand. Die Befehlshaber auf russischer Seite beeilten sich, die Verantwortung für dieses Fiasko von sich zu weisen. Mit einem gewissen Recht sprach Ludmila Leontjewa in den Moscow News vom 23./29. Juni 1995 davon, daß der 17. Juni 1995 als Tag der Dummheit und Unprofessionalität der Armee und der Unzurechnungsfähigkeit ihrer Befehshaber in die Annalen des Kampfes gegen den Terrorismus eingehen würde.

Erst nach diesem Fiasko bemühten sich die Russen ernsthaft um Verhandlungen. Dabei kam es zu einem denkwürdigen Telefonat zwischen dem damaligen russischen Ministerpräsidenten Tschernomyrdin und Bassajew, dem nach russischer Lesart "dreckigen, bärtigen tschetschenischen Terroristen", das im russischen Fernsehen übertragen wurde.

Die Demütigung Tschernomyrdins, des Ministerpräsidenten eines der mächtigsten Staaten der Erde, konnte nicht schlimmer ausfallen, als dieser Bassajew händeringend bat: "Bitte lassen Sie Frauen und Kinder frei... Hören Sie, ich bitte Sie: Tun Sie dies nie wieder. Nie wieder. Ich bitte Sie nochmals: Lassen Sie jetzt Frauen, Kinder, Kranke und Verwundete frei... Ich bitte Sie..." (S. Parkomenko, "The White House: Just another Sunday", Segodnya, 20. Juni 1995)

Bassajew konnte seine Forderungen schließlich durchsetzen und wurde mittels eines Konvois auch noch nach Tschetschenien zurückgebracht. Die Verhandlungen wurden wieder aufgenommen, führten aber zu keinen Ergebnissen. Es kam daraufhin erneut zu Kampfhandlungen. Und wieder war es Bassajew, der eine entscheidende Wende erzwang.

Personifizierung der Idee vom modernen Krieger

Im August 1996 gelang es tschetschenischen Kämpfern unter seiner Führung, die tschetschenische Hauptstadt Grosny wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen. Die Russen drohten daraufhin, die Stadt erneut zu bombardieren. Weiteren Kämpfen kam schließlich der damalige Sicherheitsberater von Jelzin, Alexander Lebed, zuvor, der einen Waffenstillstand mit den Tschetschenen aushandelte.

Die treffendste Charakterisierung für die Art von Kriegführung, wie sie Bassajew verkörpert, lieferte der israelische Autor Martin van Crefeld in seinem Buch "The Transformation of War": "Es muß darauf hingewiesen werden, daß tribalistisch strukturierten Gesellschaften, die keinen Staat kennen, die Unterscheidung zwischen Armee und Zivilisten fremd ist. Derartige Gesellschaften haben keine Armeen. (…) Genau genommen müßte man sagen, daß deren Bewohner selber die Armee verkörpern. (…) Was diese Gesellschaften also haben, sind Krieger. Derartige Gesellschaften könnten zukünftige Entwicklungen mitbestimmen."


 
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