© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/99 29. Oktober 1999


Die ahnungslose Elite
von Roland Baader

Hundertfünfzig Jahre Sozialismus in unserem Land – erst kathedergeheiligt, dann bismarck-monarchisch, dann rot, dann braun, dann wieder rot, dann schwarz-rosa, und heute grün-rot mit wachsendem blutrotem Anteil, unterbrochen nur von einer ganz kurzen Periode Erhard‘scher Aufklärung – haben eine geistige Wüste erzeugt, in der die anspruchsvollen Pflanzen "Markt" und "Freiheit" nur ein Kümmerdasein fristen können. Unternehmer unterscheiden sich in diesem Biotop, was ihren Kenntnisstand und ihre Überzeugtheit angeht, nur graduell vom "gemeinen Mann" – und deutlicher noch von der Großgilde der intellektuellen Kulturpyromanen in den Medien.

Das ist ein schwerwiegendes Manko, denn Marktwirtschaft ist ein Synonym für freie Unternehmerwirtschaft – und diese ist weit mehr als eine Wirtschaftsordnung; sie ist auch eine Gesellschaftsordnung, und zwar die einzig freie und menschenwürdige, die wir kennen. Wer also will diese Ordnung verteidigen gegen das alles überflutende Meer aus Unkenntnis, Irrtum, Verleumdung, Feindschaft und Gleichgültigkeit, die ihr unablässig widerfährt, wenn nicht diejenigen, die sie durch ihr alltägliches Tun in Gang halten!?

Der Nationalökonom Wilhelm Röpke hat schon in den dreißiger Jahren zutreffend festgestellt: "Eines der schwersten Gebrechen unserer Zeit besteht darin, daß das Problem der wirtschaftlichen Ordnung ebenso wenig verstanden wird, wie die besondere Art, in der die Marktwirtschaft es löste. Die Menschen unserer Zeit werden mit Wissen aller Art vollgestopft, aber etwas Wesentliches lernen sie nicht: die Wirkungsweise und den Sinn des eigenen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems zu verstehen, dessen Glieder sie sind und von dessen Funktion ihr Lebensschicksal abhängt. Keine Kultur aber hat jemals lange bestehen können, wenn ihre inneren Gesetze und der Sinn ihrer Einrichtungen nicht mehr begriffen wurden."

An den Fakten, die dieser Mahnung zugrunde liegen, hat sich bis heute nichts geändert, ja das Mißverhältnis zwischen Informationsfülle einerseits und Unwissenheit oder fehlerhaftem Wissen andererseits hat sich sogar noch dramatisch vergrößert. "Wir sind die informierteste und gleichzeitig ahnungsloseste Gesellschaft, die je existiert ha", lautet die Feststellung des österreichischen Dramatikers Turrini. Und das wäre zu ergänzen durch den Satz des amerikanischen Soziologen Wilson: "Die Leute lassen sich so lange am besten manipulieren, wie sie am wenigsten wissen." Man kann die beiden Zitate zur Deckung bringen und sagen: Die Leute lassen sich so lange am besten manipulieren, wie sie mit Irrtümern, Lügen und interessenpolitischen Falschparolen randvoll zugedeckelt sind. Dieses Interpretationsmonopol haben sich bei uns die Parteien und die vollständig parteiverfilzten Medien spätestens seit dem Durchmarsch der 68er fast vollständig angeeignet, kräftig unterstützt von den Gewerkschaften und von den Funktionären der ungezählten Sozial- und Interessenverbände. Leider sind die meisten Unternehmer entweder zu eitel oder zu selbstsicher, um zu erkennen oder sich einzugestehen, daß sie zur besagten Masse der manipulierten Leute gehören.

Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid vom Mai 1999 zur "Macht im Lande" hat ergeben, daß die Deutschen der Wirtschaft weitaus mehr Macht zusprechen als der Politik. 81 Prozent der Deutschen glauben, daß Konzerne die einflußreichsten Machtzentralen seien. Danach folgen Unternehmer mit 65 Prozent und Industrieverbände mit 61 Prozent.

Wenn man Unternehmer hiermit konfrontiert, wird man in aller Regel hören, eine solche Einschätzung der Macht der Unternehmer sei stark übertrieben, enthalte aber einen wahren Kern. Und genau das spiegelt auch das herrschende – völlig falsche – Kapitalismusbild der Unternehmerschaft. Was Unternehmer – im Einklang mit nahezu der gesamten Bevölkerung – für Kapitalismus halten, entspricht jedoch einem Zerrbild. Der echte Kapitalismus oder die wahre und freie Marktwirtschaft hat mit Staat, Politik und Macht überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil! Es gilt nicht nur der Satz von Franz Böhm, daß der marktwirtschaftliche Wettbewerb "das genialste Entmachtungsinstrument der Weltgeschichte" ist, sondern es gilt auch die Tatsache, daß Unternehmer und Unternehmen in einer marktwirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Ordnung überhaupt keine Macht haben. Was gemeinhin "wirtschaftliche Macht" genannt wird, ist eine Schimäre. Es kann sie nur dann geben, wenn wirtschaftliche oder finanzielle Potenz von politischer Macht gestützt wird oder von ihr durchfilzt ist. Macht in ihrer gefährlichen Ausprägung, nämlich als Herrschaft von Menschen über Menschen, kann es in einer freien, nichtpolitisierten Wirtschaft nicht geben.

Wirtschaftliche oder finanzielle Potenz mit Macht gleichzusetzen, ist ein schwerer Begriffsmißbrauch. Selbst der größte Konzern oder der reichste Unternehmer unseres Landes kann niemanden zu irgend etwas zwingen, das nicht durch freiwillig geschlossenen Vertrag vereinbart worden ist. Aber der allerkleinste Funktionär kann mich – mit irgendeinem Gesetz oder irgendeiner Verordnung im Rücken – sehr wohl zu fast beliebigen Handlungen oder Unterlassungen zwingen. Alles, was dem Markt entzogen wird, mutiert im selben Augenblick zum politischen Befehl. Die Alternative: "Entweder der herrschaftsfreie Markt – oder aber der herrschaftliche politische Befehl" ist immer und überall die einzige Wahl, vor der wir in unserem Leben stehen. Das wissen und verkünden leider viel zu wenige Unternehmer. Deshalb kämpfen sie und ihre Verbände auch unablässig den falschen Kampf, nämlich den für eine andere Politik – statt den einzig richtigen, nämlich den für weniger bis gar keine Politik (außer einer freiheitlichen Ordnungspolitik).

Aus einer Unzahl möglicher Beispiele für (mehr oder weniger unterschwellig sprießende) sozialistische, kollektivistische und etatistische Neigungen, von denen auch die großen und kleinen Bosse nicht frei sind, seien nur zwei genannt:

1) Die meisten Unternehmer finden es abwegig, wenn man das in Deutschland als unantastbar geltende Prinzip der Besteuerung "nach der Leistungsfähigkeit" als krasses Unrecht bezeichnet. Und wenn man dann gar vorbringt, daß sogar ein linearer Steuersatz eine grobe Ungerechtigkeit sei, weil auch dann derjenige, der mehr verdient, in absoluten Beträgen mehr bezahlen muß als derjenige mit einem geringeren Einkommen, dann folgt als Antwort oft nur noch der Zeigefinger an der Schläfe.

Man muß diesen Leuten die Frage stellen, wieso sie nicht dafür eintreten, daß in ihren eigenen Betrieben die kräftigeren Arbeiter für denselben absoluten Lohnbetrag mehr und länger arbeiten sollten als ihre körperlich schwächeren Kollegen. Schließlich ist doch die Leistungsfähigkeit der Muskelprotze viel größer als die der Hänflinge. Also sollten sie auch zum gleichen Lohn mehr leisten als andere, denn dieselbe Arbeit kostet sie ja viel weniger Anstrengung. Man bekommt hierauf zur Antwort, das sei ein aberwitziger Vorschlag; damit würde man Tür und Tor für unternehmerische Willkür öffnen.

Ein solches System wäre tatsächlich der Gipfel der Anmaßung und Ausdruck einer unerträglichen Sklavenhalter-Mentalität. Aber das gilt eben für jede Art der Bezahlung oder des Bezahlenmüssens nach der Leistungsfähigkeit, sei sie nun körperlicher oder finanzieller Natur. Und zu diesem Aberwitz gehört logischerweise auch die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit.

2) Derselbe sozialistische Geist spricht aus dem Bekenntnis der meisten Bosse zu der "Sozialpflichtigkeit" des Eigentums, wie sie im deutschen Grundgesetz verankert ist. Kaum einer hält sie für das, was sie ist, nämlich die gedankenloseste Aushöhlung der Freiheit und der wahren Menschenrechte, die sich ein findiges Juristenhirn ausdenken kann.

So wie die Parole von der "sozialen Gerechtigkeit", welche die gesamte politische Diskussion seit Jahrzehnten beherrscht, in Wirklichkeit die Perversion und die Umkehrung des einzig wahren und zulässigen Gerechtigkeitsbegriffes ist (nämlich der Gerechtigkeit einheitlicher, für alle gleichermaßen gültiger Regeln), so bedeutet auch die "Sozialpflichtigkeit" des Eigentums die Perversion und potentiell beliebige Aushöhlung des Eigentumsbegriffs – im schlimmsten Fall bis hin zum Totalitarismus.

Für Sozialisten und Etatisten, besonders auch für die seltsame Erscheinungsform der "etatistischen Humanisten und Moralisten", sind Eigentumsrechte und Menschenrechte völlig verschiedene Dinge. Sie preisen letztere und vernachlässigen oder verdammen erstere. Das ist eine schwere Irreführung, denn zwischen den Menschenrechten und den Eigentumgsrechten mag es Unterschiede in den definitorischen Feinheiten geben, nicht aber im Kern und im Prinzip. Prinzipiell sind die Eigentumsrechte im Locke‘schen Sinne – also das persönliche Recht eines jeden Menschen am eigenen Leben, an der eigenen unversehrten Person und an den Früchten der eigenen Arbeit – zugleich die unveräußerlichen Menschenrechte. Persönliche Freiheit und ökonomische, gesellschaftliche (oder politische) Freiheit bilden eine Einheit, die man nicht trennen kann, ohne die Freiheit und das Recht als Ganzes zu zerstören. Freiheit kann immer nur persönliche Freiheit sein; eine andere gibt es nicht. Ökonomische und politische Freiheit definieren sich lediglich als Bestandteile oder Begleitbedingungen der persönlichen Freiheit. Kern und Inhalt dieser Freiheit sind die privaten, persönlichen und individuellen Eigentumsrechte. Die "Sozialpflichtigkeit" des Eigentums stellt zugleich eine Beschränkung oder Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des Individuums über seine eigene Person, seinen Körper und sein Leben dar.

Womit wir beim (vorläufig noch) sanften Totalitarismus des Sozialstaates angelangt wären, der nicht nur den Reichtum der Nationen und die Freiheit der Menschen zerstört, sondern auch ihre Moral und somit das Grundgerüst einer freien und prosperierenden Gesellschaft. Wer den Eigentumsbegriff aufweicht, der öffnet die Tore, durch welche Gewalt, Unrecht und Unmoral in eine Gesellschaft eindringen können.

Ein sozialer Rechtsstaat darf sich in nichts einmischen, was friedlich oder gewaltfrei ist bzw. abläuft. Alles, was friedlich ist oder friedlich vor sich geht im menschlichen und gesellschaftlichen Leben, geht den Staat (oder die Regierung oder die Parteien) nichts an. Jeder Staat, der dieses Prinzip verläßt, wird zum Aggressor gegen die eigenen Bürger, zu einer Gewalt anwendenden oder mit Gewaltanwendung drohenden Maschinerie, die entweder alle oder einige Bürger dazu zwingt, Dinge zu tun, die sie nicht tun möchten – oder Dinge zu unterlassen, die sie tun möchten – oder Dinge anders zu tun, als sie möchten, sowie Güter und Leistungen bezahlen zu müssen, die sie entweder nicht haben wollen oder für die sie freiwillig nichts oder weniger bezahlen würden.

Seit Menschengedenken argumentieren die Etatisten aller Couleur, der Staat müsse sich im "öffentlichen Interesse" in bestimmte Angelegenheiten einmischen. Diese das Denken einlullende Phrase dient seit Jahrhunderten als Rechtfertigung für unsägliches Leiden und für eine endlose Ausbeutung der Menschen und Völker. Es gibt aber kein "öffentliches Interesse". Interessen können nur Individuen haben, und manchmal können Gruppen von Individuen ein bestimmtes gemeinsames Interesse haben; aber da "die Öffentlichkeit" ein Abstraktum ist, das beliebig definiert werden kann, ist auch das "öffentliche Interesse" ein Hirngespinst. Was diejenigen wirklich meinen, die von "öffentlichem Interesse" reden, ist schlicht und einfach nur der Umstand, daß einige Leute etwas auf Kosten anderer haben möchten. Und es ist Inhalt des politischen Machtgeschäfts, dafür zu sorgen, daß sie es im Gegenzug für politische Gefolgschaft auch bekommen – oder zumindest glauben, es zu bekommen.

Das ist im wesentlichen auch schon der Kern des Sozialstaats und des machtpolitischen Mammutgeschäfts, das mit ihm betrieben wird. Daß dabei alles, was wir Ethik oder Moral nennen, vor die Hunde geht, liegt nicht nur an der Tatsache, daß dabei die persönliche Karitas und das Mitgefühl erstirbt – nach dem Motto: "Warum soll ich meinem Nachbarn helfen, wenn es doch das Sozialamt gibt?!"; und es liegt nicht nur an der Tatsache, daß im Sozialstaat die Familie als die älteste und wirksamste aller Schutz- und Trutzgemeinschaften gegen die Widrigkeiten des Lebens zerstört wird. Es liegt auch daran, daß unter der Ägide des Sozial-Leviathan Recht und Gewalt eine unheilvolle Allianz eingehen.

So wird aus dem, was seit Anbeginn aller menschlichen Kultur als Unrecht, Raub, Diebstahl, Ausbeutung, Erpressung, Aggression, Unmoral und Ungerechtigkeit empfunden wurde, flugs – aber eben nur scheinbar – "Recht", "Moral" und "Gerechtigkeit", einfach indem Parteifunktionäre und gewählte Volksvertreter ein Paragraphenzeichen davor setzen. Von der angeblich "legitimen" Gewalt via Politik aber ist es nur ein winziger Schritt zur bedenkenlosen Gewalt auch ohne Politik. Das ganz große Einfallstor für die Gewalt, den Zwang und das Unrecht wird von der Politik geöffnet, indem Zwang und Gewalt als Mittel zum angeblich "guten Zweck" und als edles Geschäft der "sozialen Moral" legitimiert werden.

 

Roland Baader war von 1968 bis 1985 Industriemanager und Unternehmensberater. Seither arbeitet er als freier Publizist. Zuletzt veröffentlichte er das Buch "Die belogene Generation: politisch manipuliert statt zukunftsfähig informiert" (Resch, Graefeling 1999).


 
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