© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/99 22. Oktober 1999


Hochzeit der Wendehälse
Kai Guleikoff

In der zweistündigen 9. Tagung des Zentralkomitees der SED am 18. Oktober 1989 verlor Honecker alle Ämter. Das Politbüro hatte diese "Palastrevolution" in der vorausgegangenen Nachtsitzung vorbereitet. Die sowjetische Seite soll keine Bedenken erhoben haben. Gorbatschow empfand Honecker als Hindernis für seine "Öffnung nach Westen". Nach altem Ritual mußte Honecker den bereits festgelegten Nachfolger Krenz selber vorschlagen. Danach durfte er für immer gehen.

Krenz verlas die bereits verfaßte Antrittsrede mit dem von ihm kreierten Begriff der "Wende", die nun die DDR-Gesellschaft verändern sollte. Stunden später die gleiche Rede über das staatliche Fernsehen an die Bevölkerung. Die Anrede "Genossinnen und Genossen" ließ keine Illusionen aufkommen. Für die Bevölkerung überraschend tauchten in zahlreichen Betrieben und Einrichtungen der DDR in den folgenden Tagen hohe Funktionäre des ZK sowie der Bezirks- und Kreisleitungen der SED auf. Einige hatten sogar ihre Exquisit-Krawatten abgelegt und die Maßanzüge mit Kordhosen vertauscht. "Arbeiternähe" sollte demonstriert werden.

SED-Bezirkssekretär Modrow forderte nachdrücklich "Reformen jetzt", der Bauminister Junker klagte vor Leipziger Bauarbeitern über die "Schuld des Politbüros" und Kulturminister Hoffmann forderte sogar den "Rücktritt von Regierung und des gesamten Politbüros". Die Führungen der Blockparteien CDU, LDPD und NDPD erklärten ihre "Distanz zur SED und Eigenständigkeit". Die Antwort der Arbeiter war auf den Plakaten der mit 300.000 Teilnehmern größten Montagsdemonstration vom 23. Oktober 1989 in Leipzig zu lesen: "Wer gestern noch schrie – Stalin hurra – ist heute als neuer Reformer da!?" und "Der Dialog wird bald zur Phrase, drum gehen wir weiter auf die Straße!" Viele SED-Mitglieder sahen sich durch die "Wendigkeit" ihrer neuen Führung politisch nicht mehr vertreten. Parteiaustritte begannen sich zu häufen. Die Presse im Westen hatte bereits am 19. Oktober 1989 kommentiert: "Krenz ist nur eine Übergangslösung."


 
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