© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/99 22. Oktober 1999


Ästhetik: Zu Besuch am Wohnsitz des Dichters Gabriele d’Annunzio
Ein Denkmal anderer Art
Thomas Kohl

Im Norden von nebligen Ausläufern der Alpen eingekeilt, flieht der Gardasee an seiner Südseite schon der sonnigen Ebene der Lombardei zu. Die westliche Gardaseestraße führt zwischen Seeufer und steilem Fels nach Gardone. Ein grüner, sanft hügeliger Ort empfängt mich in der Morgensonne.

Das Vittoriale, der Wohnsitz des Dichters und Enfant terrible der europäischen Literaturszene des jungen 20. Jahrhunderts, Gabriele d’Annunzio, der Öffentlichkeit seit 1975 zugänglich, ist schnell gefunden. Gegenüber der großzügigen Toreinfahrt, auf dem Marktplatz des Ortes, stehen ein Glockenturm und ein Ehrenmal für die Gefallenen. Die Fuge der Bögen erinnert an römische Aquädukte. An den Arkaden der Kasse zeigt sich, daß der hohe Eintrittspreis durchaus einen Filter darstellt. Durchquert man das Portal zum monumentalen Komplex, führt ein gepflasterter Weg zum Platz der Piave. Die geflügelte Siegesgöttin aus Bronze steht mit gefesselten Füßen auf einem Marmorpfeiler. Zur Rechten mit Blick auf den See schließt sich ein Freilichttheater in der Struktur eines griechischen Amphitheaters an, heute ein Zentrum lebendigen italienischen Nationaltheaters. Zypressen, Lorbeerbäume und Magnolien dominieren die Gartenanlage. Im Grün erinnert ein Fels aus dem Karst an einen blutigen Schauplatz des Ersten Weltkrieges.

Auf dem halbrunden Vorplatz des Wohnhauses steht eine Art Kapelle, der Tempietto. Dort werden im Halbdunkel einige Kostbarkeiten aus dem Leben des Dichters aufbewahrt. So der "Degen der Frauen von Fiume", eine Amphore mit Wasser des hart umkämpften Flusses Piave, die Standarten von Fiume und Dalmatien. Ein Schrein birgt eine blutgetränkte Fahne.

Der erfolgreiche Schriftsteller der Belle Époque und Kriegsheld d‘Annun-zio führte 1919 im Alter von 56 Jahren den Marsch auf Fiume. Es handelt sich um das heutige Rijeka, das infolge der Friedensverhandlungen Jugoslawien zufällt. Er etablierte dort eine visionäre Republik, die in dieser Umbruchzeit für Europa bald eine Anziehungskraft auf ganz unterschiedliche geistige Strömungen ausübt. Das Experiment endete am 26. Dezember 1920 mit dem Kanonenschuß des königlichen Panzerkreuzers "Andrea Doria" auf den Regierungspalast von Fiume. Der Kommandant d‘Annunzio zog sich zurück. Der unruhevolle Geist träumte von der Errichtung eines nationalen Denkmals neuer Art. Gemeinsam mit dem Architekten und Spiritisten Maroni plante er diesen Bau. Gewidmet dem italienischen Volk, sollte die Anlage des Vittoriale "nicht fettes Erbe leblosen Reichtums, sondern nacktes Erbe unsterblichen Geistes" sein.

Tatsächlich zeigt die Villa des Dichters "die Spuren meines Stils". Man ist von Eindrücken hin und her gerissen. Hier inszenierte sich ein Mensch in einer ungewohnt kompromißlosen Weise. In den Räumen mit ihrer gehaltvollen Unübersichtlichkeit entdeckt man neben bibliophilen, antiken und künstlerischen Kostbarkeiten einen funktionstüchtigen Doppeldecker, neben Ikonen ein Maschinengewehr aus dem Ersten Weltkrieg. Ein morbider Charakter vergangener aristokratischer Haltung nimmt die Herausforderungen der bis dahin unbekannten Gewalt des technischen Zeitalters an.

Die einzelnen Räume haben ein bestimmtes Motto und sind unter diesen Gesichtspunkten opulent ausgestaltet. So kann man die eigenwilligen Schlafsäle betrachten, das blaue Badezimmer mit Fliesen aus sagenhaften persischen Palästen und antiken Wassergottheiten, die Schreibzimmer für verschiedene Gefühlslagen. Jedes Detail der Einrichtung des Raumes kann gelebte Gedanken, gelebtes Leben, Geschichte vorweisen. Seine für ihn typischen Sichten auf das feine Wechselspiel von Materie und Geist werden hier deutlich. Die innen vorherrschende schwüle, dunkle Atmosphäre steht in krassem Kontrast zu dem fast mediterranen Licht des Gardasees. Der Ästhet nahm sich viel Zeit für sich und kultivierte sein Leben. Er erhob Dinge aus seiner Lebensgeschichte zu Reliquien und zögerte nicht, seine eigene Sichtweise auf die Welt Gestalt werden zu lassen. Das mutet heutzutage, wo scheinbar eigener Lebensstil durch planbar käufliche Produkte zu erreichen ist, wundervoll kreativ an. Die Frage nach Individualismus stellt sich neu.

In der weiteren Gartenanlage, in der nach Schwarzweißfotos die schönsten Frauen der damaligen Zeit lustwandelten, findet man Denkmäler, Brunnen und einsame Laubengänge. Seine zahlreichen Verehrerinnen mußten damit vorliebnehmen, daß der Platz in seinem Herzen "nur der Liebe und nicht einer bestimmten Frau gehören kann..."

Ein "MAS 96" ist ausgeschildert. Das klingt irgendwie nach Industrial, EBM und Techno. Es stellt sich als ein Torpedoboot im Wasserbassin heraus. Nach einem Segelunfall in der Adria wurde der junge d’Annunzio von der Marine gerettet. Er engagierte sich zeitlebens in diesem Zweig der Seefahrt. Der Panzerkreuzer "Puglia", ebenfalls Schauplatz zahlreicher Kriegserlebnisse, wurde dem Dichter geschenkt und im Garten aufgestellt. Das in Stein eingelassene Vorschiff soll an einen Wikingermythos erinnern.

Der Hügel des Mausoleums in altrömischem Stil ist ein weiterer zentraler Punkt. Steinkreisförmig in der Anlage stehen die zehn Sarkophage seiner Legionäre um das Grab des Kommandanten. Um das Bild des Gesamtkunstwerks abzurunden, waren in Richtung der Stadt, in der Ringmauer um das Anwesen, Handwerksläden geplant. Dort sollte traditionelle italienische Handswerkskunst gepflegt und weiterentwickelt werden.

Die Verbindung des im März 1938 gestorbenen Dichters zu Mussolini und zum Faschismus wird unterschiedlich beurteilt. Auf jeden Fall werden Postkarten angeboten, die die beiden Männer in angeregter Diskussion zeigen.

Man muß den Geschmack d’Annun-zios nicht teilen, um zu erkennen, daß es sich beim Herrn dieses Hauses um einen ausgestorbenen Typus Mensch handelt. Der Wohnsitz Ernst Jüngers ist zwar weniger schillernd, doch scheint eine gewisse Parallelität zwischen den beiden unverwechselbaren Charakteren zu bestehen. Beide kamen in ihrem Verständnis von Großzügigkeit, Bildung und Anspruch an das Leben aus einem vergangenen Jahrhundert und kämpften auf ihre Art in der mechanisierten und industrialisierten Welt um ihren Platz und ihre Würde.


 
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