© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/99 15. Oktober 1999


Markus Huttner: Totalitarismus und säkulare Religionen
Wie Teufel und Beelzebub
Georg Willig

Es ist erst ein Jahrzehnt vergangen, seitdem Historiker, die die beiden großen Diktaturen dieses Jahrhundert miteinander verglichen, mit ehrabschneiderischer Kritik überhäuft wurden. Ernst Nolte war dabei die bevorzugte Zielscheibe. Inzwischen brachte das wiedererwachte Forschungsinteresse an Idee und Begriff des Totalitarismus eine Vielzahl von Publikationen hervor. Einen repräsentativen Überblick bietet Eckhard Jesse, Grundlegendes auch Ernst Nolte, Thomas Nipperdey, Uwe Backes, Karl Dietrich Bracher, Jürgen Kocka und nicht zuletzt Klaus Hornung mit seinem historisch-politischen Fazit "Das totalitäre Zeitalter", um nur einige wichtige Namen zu nennen.

Vergessen wird dabei oft, daß diesen neueren Werken eine jahrzehntelange Arbeit der angloamerikanischen und westdeutschen Politikwissenschaft vorausgegangen ist, ganz abgesehen von hellsichtigen Analysen in der englischen Presse der dreißiger Jahre. So charakterisierte der Berliner Times-Korrespondent bereits wenige Wochen vor den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 die NSDAP mit der Bemerkung, diese predige eine Art von "patriotischem Bolschewismus", und der damalige Berliner Guardian-Vertreter F.A. Voigt wies auf die augenfälligen Parallelen zwischen NS-Bewegung und sowjetischen Phänomenen hin: Er schrieb der SS eine der sowjetischen Geheimpolizei GPU vergleichbare Funktion zu.

Zustimmung werden diese Einschätzungen auch bei einem anderen Kenner totalitärer Systeme gefunden haben, nämlich bei Leo Trotzki, der am 22. März 1933 in einem Gastkommentar für den Manchester Guardian bemerkte, Bolschewismus und Faschismus verhielten sich wie Teufel und Beelzebub zueinander. Er als Geburtshelfer des Totalitarismus mußte die Zwillinge allerdings schon in ihren ersten Schritten erkennen.

In dem Buch Markus Huttners zur Frühgeschichte totalitarismuskritischer Begriffs- und Theoriebildung in Großbritanien geht es dem Autor darum, wie die geschichtlichen Veränderungen eine neue Begrifflichkeit hervorrufen, die damit zum Instrument der Erkenntnis dieser Vorgänge wird. So wird der Begriff "totalitär" Indikator für das Bewußtsein, daß mit derart bezeichneten Phänomenen etwas Neues in die Geschichte getreten ist. Dazu wertet Huttner zahlreiche Buchveröffentlichungen und die beiden führenden englischen Zeitungen Times und Manchester Guardian zwischen 1930 und 1939 systematisch aus.

In einem zweiten Strang dieses Buches zeigt der Autor, wie schon in den zwanziger und dreißiger Jahren in England die ideologischen Massenbewegungen und Weltanschauungsdiktaturen von einigen Denkern und Publizisten als Formen säkularer Religion verstanden wurden. Dahinter steht die Einsicht, daß diese Systeme den Anschein erweckt haben, das vor allem nach dem Bedeutungsverlust der Religionen entstandene Vakuum an Sinn und Sicherheit befriedigen zu können: sie erhoben den Anspruch, elementare psychische und sozialen Bedürfnisse erfüllen zu können. Anders ist die breite Zustimmung, die diese Regime auch außerhalb des Zwanges jahrelang gefunden haben, wohl kaum zu erklären. Dabei stellt Huttner den englischen Publizisten F. A. Voigt als Schlüsselfigur für die Begründung dieses Deutungsansatzes vor. Er zeigt, wie diese Sicht inzwischen in der Forschung zahlreiche Werke hervorgebracht hat. So rückte vor allem der Religionsphilosph Hans Maier in einem großangelegten Projekt zum Diktaturvergleich die quasi-religiösen Züge der Diktaturen in das Zentrum seiner Arbeiten, denen Huttner, nach eigener Aussage, viel zu verdanken hat.

Huttner zeigt in seinem Buch – mit mehr als 700 Anmerkungen, die erfreulicherweise jeweils auf der betreffenden Seite erscheinen – die Weite dieses Forschungsgebietes, die unterschiedlichen Konzeptionen dieser beiden Ansätze, sowie seine große Kompetenz, dies alles unter seinem Grundthema wie aus einem Guß zu verschmelzen. Da mag es kleinlich erscheinen, einige gequält "wissenschaftliche" Formulierungen und das allzu häufige Reden von "Stellenwerten" zu bemängeln.

Aufs beste belehrt, aber auch resigniert, blickt der Leser auf die Lektüre dieses Buches zurück, wenn er sieht, wie wenig diese frühzeitigen Erkenntnisse die entscheidenden Politiker der Demokratien in ihren Handlungen bestimmt haben: wie spät sie zu der Erkenntnis gekommen sind, daß man das Übel an der Wurzel bekämpfen muß, wenn man die Freiheit erhalten will.

 

Markus Huttner: Totalitarismus und säkulare Religionen. Zur Frühgeschichte totalitarismuskritischer Begriffs- und Theoriebildung in Großbritannien, Bouvier Verlag, Bonn 1999, 414 Seiten, 48 Mark


 
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