© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/99 15. Oktober 1999


John Gray: Die falsche Verheißung. Der globale Kapitalismus und seine Folgen
Abrechnung mit den Hyperglobalisierern
Michael Wiesberg

Kaum noch zu überblicken sind die Publikationen zum Thema "Globalisierung". Da bleibt es nicht aus, daß Wichtigtuerei häufig die Fachkompetenz ersetzt. Es sei in diesem Zusammenhang nur auf die Thesen der französischen Literaturprofessorin Vivianne Forrestier verwiesen.

Von mangelnder Fachkompetenz kann bei dem hier anzuzeigenden Buch von John Gray, Professor an der renommierten London School of Economics, keine Rede sein. Grays Buch "Die falsche Verheißung" ist das Dokument einer erstaunlichen Wandlung. Anfang der achtziger Jahre noch "Cheftheoretiker" von Premierministerin Thatcher, ist Gray unterdessen zum scharfen Kritiker des Neoliberalismus geworden.

Im Mittelpunkt seines bemerkenswerten Buches steht die Auseinandersetzung mit dem Primat des Marktes und der damit einhergehenden "Dekonstruktion des Politischen", um einen Begriff von Ricardo Petrella aufzunehmen. Im gleichen Maße, wie insbesondere von seiten der USA rücksichtslos die Öffnung der Märkte betrieben wird, sinkt der Handlungsspielraum des Staates. In gleichen Maße sinkt damit aber auch dessen Anspruch, ein glaubwürdiger Vertreter des Allgemeinwohles zu sein. Die heutige Doktrin des "freien Marktes" mutet aus der Sicht Grays um so merkwürdiger an, weil dieser "eine angelsächsische Ausnahmeerscheinung des 19. Jahrhunderts" darstellt. Deswegen sei es "Hybris", eine "gesellschaftliche Institution weltweit durchsetzen zu wollen, welche in der Geschichte des Kapitalismus lediglich ein Intermezzo darstellte": einmal im 19. Jahrhundert und dann in den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts in Neuseeland, Großbritannien, den USA und Australien.

Gray behauptet einen Zusammenhang zwischen freiem Markt und gesellschaftlichem Ordnungsverlust. "Selbst wenn der freie Markt als solcher stabil gehalten werden könnte", meint Gray, "wird er auf Institutionen, die den sozialen Zusammenhalt gewährleisten sollen, einen zerstörerischen Einfluß haben". Keine Gesellschaft, erklärt Gray apodiktisch, die sich für den freien Markt entscheide, könne dies verhindern. Musterbeispiele dieser Entwicklung sind nach Gray die angelsächsischen Staaten. Als unmittelbare Folge des Thatcherismus in Großbritannien sieht Gray eine "zunehmende Gesetzlosigkeit", verursacht durch die "Schwächung der traditionellen Bindekraft von Familien- und Gemeinschaftsleben". Dazu zähle auch der "radikale Funktionswandel staatlicher Schulen, die sich fortan auf eine wettbewerbsorientierte – und dadurch soziale Gräben aufreißende – Aneignung von Wissen und Fähigkeiten konzentrierten".

Noch gravierender sei die Entwicklung in den USA: "Die Zahlen zur Inhaftierung, zur Häufigkeit von Gewaltverbrechen und Rechtsstreitigkeiten zeichnen das Bild einer Gesellschaft, in der das Gesetz fast die einzige noch funktionierende gesellschaftliche Institution ist und das Gefängnis eines der wenigen noch intakten Mittel sozialer Kontrolle". Gray sieht vor diesem Hintergrund in Anknüpfung an eine These von Michael Lind die Gefahr einer "Brasilianisierung": "Die Hauptgefahr, die den Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert droht", schreibt Lind, "ist nicht die Balkanisierung, sondern die Brasilianisierung. Darunter verstehe ich nicht die Trennung der Kulturen durch die Rasse, sondern die Trennung der Rassen durch die Klasse". Ein Indiz für diese These sind die Kriminalitätsziffern der Afroamerikaner: Sie landen in den USA mit einer siebenfach höheren Wahrscheinlichkeit als Weiße hinter Gittern. Diese gravierenden gesellschaftlichen Friktionen, deren Genese Gray direkt aus der in den USA mit aller Radikalität verfochtenen Ideologie der freien Märkte ableitet, führt Gray zu der Frage, warum sich ausgerechnet die USA als Bannerträger einer Weltzivilisation begreife.

Das gegenwärtige Projekt eines einzigen globalen Marktes, so behauptet Gray, sei "die vom aufsteigenden Neokonservativismus vereinnahmte universale Mission Amerikas". Und weiter: "Die Utopie des Marktes hat sich erfolgreich des amerikanischen Glaubens bemächtigt, ein einzigartiges Land zu sein, das Modell einer Zivilisation, das allen Gesellschaften zur Nachahmung bestimmt ist." Gray schreibt dieses Projekt wechselweise der "Neuen Rechten" bzw. den US-Konservativen zu. Letzteres mag noch angehen. Mit Sicherheit unzutreffend ist die Verbindung "freier Markt" und "Neue Rechte". Gray läßt offen, wen oder was er unter "Neuer Rechte" versteht. Identifiziert man z.B. den ehemaligen republikanischen Präsidentschaftskandidaten Pat Buchanan, der sich jetzt anschickt, für die Reformpartei ins Präsidentschaftsrennen zu gehen, mit dem Begriff "Neue Rechte", dann liegt Gray mit seiner Einschätzung völlig daneben. Buchanan hat z.B. in seinen Buch "The Great Betrayal" (1998) eine klare Absage an die Ideologie des freien Marktes vorgelegt, auf die Gray an keiner Stelle seines Buches eingeht. Statt dessen sind bei Gray so merkwürdige Einlassungen zu lesen wie "Es ist ein schlechtes Omen, daß nur in Pat Buchanans Wahlkampf von 1996 Fragen wirtschaftlicher Gerechtigkeit einen gewissen Einfluß auf die offizielle Politik gewannen". Buchanan weist laut Gray auf die sozialen Verwerfungen der Globalisierung natürlich nur deshalb hin, um von den Ängsten der Wähler vor einer neuen wirtschaftlichen Ungleichheit zu profitieren. Wer Buchanans "The great Betrayal" gelesen hat, der weiß, daß es dieser mit seiner Globalisierungs-Kritik ernst meint.

Erstaunlich ist es allemal, wie deckungsgleich die Argumente beider Autoren zum Teil sind. So benennt Buchanan in erfreulicher Deutlichkeit die sozialen Friktionen, die die Globalisierung auch in den USA verursacht. Buchanan sieht deshalb "zwei Nationen" in den USA. Einmal die Klasse der Globalisierungs-Gewinner. Auf der anderen Seite steht das "vergessene Amerika", womit Buchanan den amerikanischen Mittelstand meint, der zu den eindeutigen Verlierern zählt. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang weiter daran, daß die Öffnung der Märkte erst unter der linksliberalen Ägide des Demokraten Bill Clinton in Angriff genommen worden ist. Eine Tatsache, über die Gray interessanterweise nicht ein Wort verliert. Im gleichen Maße wie die US-Konservativen hängen auch die Linksliberalen in den USA einem radikalen Liberalismus an, der der "Offenheit der Märkte" absolute Priorität einräumt. Man denke in diesem Zusammenhang nur an den kompromißlosen Rigorismus der US-Handelsbeauftragten Charlene Barshefsky, die mit allen Mitteln die Öffnung der Märkte zu erzwingen trachtet. In ihrer Person verkörpert sich das, was Gray als "Hyperglobalismus" bezeichnet: die Doktrin eines grenzenlosen Weltmarktes, der keine Nationalstaaten mehr kennen will.

Wie wenig die Ideologie des freien Marktes mit den "Neuen Rechten" in Verbindung gebracht werden kann, zeigt folgende Passage: "Die Ideologie des freien Marktes, für die Amerika gegenwärtig wirbt (…), gehört in die Welt eines John Locke, nicht in unsere. Die Annahme universal gültiger Menschenrechte, die auf die Gebote einer christlichen Gottheit zurückgehen, das Beharren darauf, daß die amerikanische Lebensart auf Naturgesetzen beruht, sowie die Auffassung, der Staat dürfe lediglich eine begrenzte Rolle spielen – all das verschleiert (…) die Vielgestaltigkeit der Welt." Wenn es ein Kriterium für "neurechtes" Denken gibt, dann wohl dessen gegenaufklärerische Grundausrichtung. Daß neurechtes Denken ausgerechnet Relikte der Aufkärung instrumentalisieren soll, erscheint abwegig. Diese terminologische Schwäche des Buches soll aber nicht dessen Verdienste überdecken. Grays Analysen zur Situation in Rußland, China, Japan und den angloamerikanischen Staaten sind hellsichtig. Daß Gray am Schluß seiner Analysen zu einer pessimistischen Bewertung künftiger Entwicklungen kommt, liegt in der Logik seiner Argumentation: "So wie der Weltmarkt derzeit organisiert ist", stellt Gray fest, "macht er ein harmonisches Zusammenleben der Völker unmöglich". Er zwingt sie dazu, "um Ressourcen zu konkurrieren, und hilft ihnen in keiner Weise, sparsam damit umzugehen". Deshalb ständen wir nicht vor einer Ära des Reichtums und des Überfluß, "sondern am Beginn einer tragischen Epoche, in der souveräne Staaten durch die Anarchie der Märkte und die fortschreitende Verknappung von Ressourcen in eine immer gefährlichere Rivalität getrieben werden". Auf die Risiken geopolitischer Konflikte sei der globale Kapitalismus aber in keiner Weise vorbereitet. Ein wenig ermutigendes, aber wohl realistisches Resümée. Michael Wiesberg

 

John Gray: Die falsche Verheißung. Der globale Kapitalismus und seine Folgen. Alexander Fest Verlag, Berlin 1999, 334 Seiten, 39,80 Mark


 
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