© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/99 15. Oktober 1999


Zwangsarbeiter: Die Interessen der Opfer rücken in den Hintergrund
Identitätsstifter Holocaust
Ivan Denes

Nach monatelangen Verhandlungen hat nun die deutsche Seite ihr Angebot für die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter auf den Tisch gelegt: vier Milliarden von der Wirtschaft (davon etwa 50 Prozent absetzbar) und zwei Milliarden vom Bund. Das bedeutet im Klartext, vier Milliarden vom Steuerzahler, der der ganzen Angelegenheit verständnislos gegenübersteht. Denn die überwältigende Mehrheit der Steuerzahler gehört zur Nachkriegsgeneration, bzw. war bei Kriegsende im Kleinkindalter.

Ein Aufschrei der Empörung kam seitens der Anwälte, die die "class actions" (Sammelklagen) im Namen der ehemaligen Zwangsarbeiter betreiben. Ihre Forderungen belaufen sich verschiedentlich auf 20 bis 50 Milliarden Mark – verständlich, zumal bei derartigen Verfahren, wenn gewonnen, das (in Deutschland unzulässige) Erfolgshonorar des US-Anwalts 20 Prozent beträgt. Den lautstärksten unter den Winkeladvokaten, Ed Fagan, bezeichnete selbst Ignatz Bubis als "Halsabschneider".

Vor kurzer Zeit haben die Herren vom Jewish World Congress (JWC), der (World Jewish Restitution Organisation (WJRO) und der Claims Conference (es handelt sich im Kern immer um dieselben: Israel Singer und Elan Steiberg) ein Gutachten einer texanischen Firma (Nathan) vorgelegt und über Reuters verbreiten lassen, aus dem hervorging, daß 2,3 Millionen ehemalige Zwangsarbeiter noch am Leben seien.

Diese Zahl – ähnlich wie verschiedene andere, von den Anwälten genannten Zahlen zwischen 1,2 und 1,7 Millionen – ist völlig unrealistisch. Bei Kriegsende gab es in Deutschland etwa 7,8 Millionen Zwangsarbeiter. Während des gesamten Weltkrieges wurden insgesamt etwa zwölf Millionen Zwangsarbeiter eingesetzt. Bei Kriegsende waren davon 8 Prozent Juden, 92 Prozent Nichtjuden. Die überwältigende Mehrheit der Nichtjuden bestand aus Russen (Kriegsgefangene und verschleppte Zivilpersonen), Ukrainern, Weißrussen und Polen. Die durchschnittliche Lebenserwartung in den ehemaligen Sowjetrepubliken beträgt zur Zeit 59 Jahre. Seit Kriegsende sind 54 Jahre vergangen. Es wurden zwar auch Jugendliche zur Zwangsarbeit eingesetzt, aber die große Mehrheit bestand aus Erwachsenen – mit goodwill geschätzt durchschnittlich 21 Jahre (Anwälte und Organisationen sprechen, wenn sie auf die Tränendrüse drücken und auf die Dringlichkeit der Frage zu sprechen kommen, von einem Durchschnittsalter von 80 und mehr). Man erwähnt überhaupt nicht, was zum Beispiel Stalin nach Kriegsende mit den Rotarmisten machte, die aus deutscher Kriegsgefangenschaft heimkehrten. Wenige überlebten die sibirischen Lager. Daher können es nicht Millionen sein, die heute noch am Leben sind. Schon bei der Auseinandersetzung mit den Schweizer Banken operierte der WJC mit den verschiedensten Gutachten , die immer wieder mit Phantasiezahlen aufwarteten. Edgar Bronfman persönlich sprach von mindestens drei Milliarden US-Dollar, die die Schweizer Banken schuldeten – wenn es so gewesen wäre, hätte er sich nie und nimmer mit 1,25 Milliarden US-Dollar auszahlen lassen.

Die deutschen Zahlen sind viel realistischer – etwa 240.000 "Sklavenarbeiter" und 750.000 Zwangsarbeiter. Unter "Sklavenarbeiter" versteht man die Kategorie die in Konzentrationslagern zur Arbeit gezwungen wurden und bei denen die unmenschlichen Lebensumstände eine sehr hohe Sterblichkeitsrate bedingte. Die Differenzierung wurde vom WJC durchgesetzt, um den betroffenen überlebenden Juden eine höhere Entschädigung zu sichern. Jetzt wird jetzt eingeräumt, daß die Hälfte der "Sklavenarbeiter" Nichtjuden waren.

In Sachsenhausen waren bei Kriegsende 14.000 Russen (Kriegsgefangene) und 10.000 Juden interniert. Die aus der Exsowjetunion und Polen deportierten hatten eine Sonderkluft zu tragen, auf der "OST" stand, die Lebensbedingungen waren lagerähnlich und daher war die Sterblichkeitsquote ähnlich hoch wie bei den internierten Juden.

Nur steht hinter dieser Kategorie weder die New York Times noch eine Organisation wie die B’Nai Brith-Logen. Die Differenzierung zwischen "Sklavenarbeiter" und "Zwangsarbeiter" dient ausschließlich als Vorwand, um den jüdischen Holocaustopfern mehr zu bezahlen als den anderen. Sie wird in Osteuropa sehr befremdend wirken und weiteren Antisemitismus provozieren.

Für den deutschen Steuerzahler bleibt es unverständlich, warum 54 Jahre nach Kriegsende jetzt der gesamte Komplex Holocaust-Entschädigung hochgekommen ist. Dabei ist die Annahme falsch, daß es sich in erster Reihe um Geld handelt. Es geht vorrangig um eine Identitätsfrage des amerikanischen Judentum, das von einer totalen Absorption bedroht ist.

Schon 1990 betrug die Quote der Mischehen 52 Prozent, die Tendenz ist eindeutig steigend; eine religiöse Grundlage gibt es kaum, da die große Mehrheit der US-Juden assimiliert ist; die nationale Komponente, die für die notwendige Hilfeleistungen zugunsten Israels bis zu dessen staatlicher Konsolidierung diente, ist obsolet geworden (was auch im dramatischen Rückgang des Spendenaufkommens Niederschlag findet). Mit anderen Wort: es wurden vielfach Befürchtungen laut, denen zufolge in höchstens zwei Generationen das amerikanische Judentum als kompakte Gemeinschaft verschwinden könnte.

Der einzige gemeinsame Nenner, der eine jüdische Identität gewährleistet, ist der Holocaust – vom amerikanischen Judentum über Jahrzehnte verdrängt und nach Ende des Kalten Krieges hervorgeholt. Parallel zu dieser Entwicklung verschob sich die Position des US-Judentums von der Peripherie der Gesellschaft – wo es als eine der zahlreichen Minderheiten fungierte – in das Zentrum des politischen, wirtschaftlichen, akademischen Lebens und der Medienbranche.

Heute gibt es an jeder größeren amerikanischen Universität Holocaust-Lehrstühle, in jeder größeren Stadt ein Holocaust-Denkmal, Museum oder Bibliothek. Die Holocaust-Problematik wurde mit der Zeit gesamtamerikanisch, daher die Drohungen mit amerikanischen Gerichten und mit Maßnahmen verschiedener kommunaler und einzelstaatlicher Behörden (das bekannteste Beispiel ist die Organisaton des New Yorker Stadtkämmerers Alan Hevesi, dem 900 städtische und staatliche Finanzverantwortliche angehören und die mit Boykottdrohungen nicht sparen).

Um diesem Ersatzmittel Militanz zu gewähren, setzte man mit dem Versuch an, die Wahl Kurt Waldheims zum österreichischen Staatspräsidenten zu verhindern, was nicht gelang. Aber der WJC erkannte bei dieser Gelegenheit seinen eigenen Einfluß. Edgar Bronfman, dem Präsidenten des WJC, gelang es, dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Itzhak Rabin eine Vollmacht abzuluchsen, um alle Juden in Restitutionsfragen vertreten zu können. Die gegenwärtige israelische Regierung unter Ehud Barak will diese Vollmacht zurücknehmen – ohne einen Konflikt mit dem US-Judentum vom Zaun zu brechen.

Der WJC und die anderen Organisationen benutzen die Restitutionsforderungen (in verschiedensten Bereichen – Bankkonten, Versicherungspolicen, Grundstückeigentum, Arisierung, Raubkunst – und gegen verschiedene Länder: Schweiz, Deutschland, Österreich, Frankreich, Holland, Portugal), um die Vorstellung vom Holocaust auf internationaler Ebene dauerhaft zu sichern, wobei ein Leidensmonopol beansprucht und der Vergleich mit anderen Völkermorden mit theologischem Eifer bekämpft wird. Das gilt in erster Reihe für die Organisationen, nicht für die Rechtsanwälte.

Otto Graf Lambsdorff erklärte sich überrascht und betroffen von der Haßwelle, die ihm im vor der letzten Verhandlungsrunde entgegenschlug. Die B’Nai Brith-Logen haben eine Viertelmillion US-Dollar in Großanzeigen gegen Daimler, Bayer und Ford gesteckt, Demonstranten zeigten Tafeln mit den Profiten der deutschen Unternehmen (als ob das Reichtum eines "Angeklagten" irgendein Maßstab darstellte!), und es wird immer wieder behauptet, daß sich die deutsche Wirtschaft auf dem Rücken der Zwangsarbeiter bereichert habe. Aber Graf Lambsdorff muß sich auf noch mehr Emotionen gefaßt machen, denn das ist der Sinn der ganzen Übung: das Judentum als universelles Opfer darzustellen.

Die Anzeigen haben Graf Lambsdorff überrascht, sollten es aber nicht. Es wir noch mehr kommen, weil dieselbe Ursache immer dieselbe Wirkung zeitigt. Hier geht es um eine langfristige Auseinandersetzung. Auch wenn man in dem einen oder anderen Bereich sich einigen sollte, es werden immer neue Vorwände und immer neue Gegner erfunden. Gegen eine Anzeige kann man mit einer Gegenanzeige ankämpfen, zum Beispiel unter Hinweis auf die in der Geschichte ebenso beispiellosen bisherigen Wiedergutmachungsleistungen Deutschlands. Oder auf die Renten, die von Holocaust-Überlebenden bezogen werden und die sie von zusätzlichen Leistungen ausschließen sollten. Oder auf die Verjährung materieller Forderungen (einzelne US-Bundesstaaten haben Sondergesetze verabschiedet, die etwa im Versicherungsbereich die Verjährung außer Kraft setzen sollen – auf Völkerrechtsebene entscheidet nicht das Parlament einzelner US-Bundesstaaten).

Der Münchner Sozius von Rechtsanwalt Fagan, Michael Witti, weist immer wieder auf zwei deutsche Gerichtsurteile hin, in denen empfohlen wurde einen außergerichtlichen Vergleich in Höhe einer Pauschalzahlung von 15.000 Mark zugunsten eines ehemaligen Zwangsarbeiters zu schließen. Witti geht jedoch wie die Katze um den heißen Brei mit den zahlreichen anderslautenden Beschlüssen deutscher Richter um, die die Klagen abgelehnt haben, teils unter Hinweis auf die Verjährung, teils auf Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses nach arbeitsrechtlichen Kriterien.

Man sollte auch in der amerikanischen Öffentlichkeit ohne Scheu auf die jüngsten diesbezüglichen Sprüche amerikanischer Gerichte hinweisen. Und die Drohungen, zum Boykott gegen deutschen Waren in den Vereinigten Staaten aufzurufen, muß man mit der Charta der Welthandelsorganisation kontern, die derartige Boykottmaßnahmen verbietet. Selbst der Staatssekretär im Schatzamt, Stuart Eizenstat – selbst orthodoxer Jude und Sonderbeauftragter Clintons für Restitutionsfragen – hat vor Boykottdrohungen gewarnt. Er weiß sehr wohl, daß die EU sofort Gegenmaßnahmen einleiten würde.

Satt mit einer harten Antwort auf die Anfeindungen und Angriffe der Anwälte und Organisationen hat Graf Lambsdorff halbherzig und zaghaft reagiert. Erst behauptet er, das Angebot gilt als "take it or leave it", also als endgültig, tags darauf läßt er durchblicken, daß man das Angebot eventuell noch verbessern sollte.

Positiv hat sich in den letzten Wochen der Bundeskanzler benommen. Erst hat er dem Gericht in New Jersey in der Sache Degussa einen "friend of court"- Brief zukommen lassen, der entscheidend mitgewirkt hat bei der Abweisung der Fagan-Klage. Und jetzt hat er die Lambsdorff-Vorlage öffentlich unterstützt. Allerdings soll nicht vergessen werden, daß im Sommer 1998 Gerhard Schröder, damals noch niedersächsischer Ministerpräsident und als solcher Aufsichtsratmitglied des VW-Konzerns erst die ganze Problematik ins Rollen brachte, als er VW zwang, den Standpunkt, den das Haus bis dann vertrat – nämlich daß der Bund die Verantwortung für die NS-Zeit trage – radikal zu ändern. So kam die 20-Millionen-Stiftung zustande, die sofort von Siemens nachgeahmt wurde. So wird die Bonner Verhandlungsrunde im November nicht die letzte bleiben, und es ist zu befürchten, daß Graf Lambsdorff nachgeben wird.


 
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