© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/99 08. Oktober 1999


Sex im Internet: "Ich kenne überhaupt niemanden, der nicht nackt vor dem Bildschirm hockt"
Die obskure Plauderecke
Ellen Kositza

Es funktioniert einfach nicht mehr, das im Grunde so simple Rezept des Zusammenlebens von Mann und Frau. Die Tages-Überschriften der nachmittäglichen Fernseh-Talkshows zeigen es, die sich sprunghaft vermehrende Anzahl der Streitschriften und Ratgeber zum Thema weist es auf, und nicht zuletzt die eigene Umgebung vermittelt ein Bild des gestörten, wenn nicht tödlich erkrankten Verhältnisses der Geschlechter. Frauen mutieren zu Zicken, Männer zu Memmen, Kontakte zum anderen Geschlecht beschränken sich mitunter auch bei ganz jungen Männern auf den Jahresurlaub in Kuba oder der Dominikanischen Republik. Telefonsex erscheint als immer lohnenderes Geschäft. Es gibt Abi-Jahrgänge, in denen sich über zehn Prozent der Schüler zur Homosexualität bekennen – ein weiteres Lifestyle-Syndrom.

Einen noch extremeren Weg, die Probleme mit dem eigenen Sexus zu lösen, wählte ein Straßennachbar: Bis vor kurzem Stammtischbruder, Vereinsmeier und schnauzbärtiger Hans-Dampf-in-allen-Gassen, beschloß er gerade, physisch eine Frau zu werden, und zieht sich jetzt den Ärger des Ortes zu. Nicht wegen ungewohnten Röckchen und Schühchen; nein, das Mensch weigert sich seither, die Straße vor seinem Haus zu fegen.

Wenn auch der normale kommunikative und weitere Verkehr mit dem anderen Geschlecht nicht mehr klappt, die elementarsten Bedürfnisse scheinen zu bleiben und werden umgeleitet, hin zum Geschlechtsgenossen, per Fernreise über Kontinente hinweg, durch einen Schnitt im OP oder eben virtuell. Auf dem großen Markt der Informationen, Produkte, Dienstleistungen und der puren Unterhaltung, den die moderne Vermittlungsinstanz Internet bereithält ist Sex ein Dauerbrenner, mit unaufholbarem Vorsprung Thema Nr.1. Heiße Bilder von nackten Menschen, Softporno, Hardcore, Schwulenphantasien,in den sogenannten newsgroups werden wüste und längst nicht mehr intime Erlebnisse ausgetauscht, es gibt Internet-Seitensprungagenturen, und vor einiger Zeit geisterte durch die Restmedien die Ankündigung, daß (zum Zwecke der Aufklärung, versteht sich) zwei Teenager ihre Unschuld im Internet live verlieren wollten.

Der ultimative Kitzel der angeschwollenen Internet-Sex-Branche ist das interaktive Sexgespräch mit zeitgleich vor dem Bildschirm schwitzenden Gleichgesinnten. Sex im Internet, geruchlos und mit hundertprozentiger Sicherheit vor Geschlechtskrankheiten, dazu gewöhnlich nicht sündhaft teuer wie ordinärer Telefonsex: das ist hygienisch, modern und ein passables, durchaus salonfähiges Gesprächsthema. Zum Beispiel für Umberto Eco: Auch ein Mann, der sicher mal als einer der 100 großen Geister des 20. Jahrhunderts in die Annalen eingehen wird, besitzt eben ein Genital. Wer das Internet zu erkunden beginnt, geht meist sofort daran, sich mit Playboy und Penthouse in Verbindung zu setzen schwadronierte Eco vor Jahren in der Zeit, meinte damit sicher nur die eine Hälfte der Menschheit und referierte dann im Detail seine ganz persönliche Chronik einer sündigen Nacht im Netz der unbegrenzten Möglichkeiten.

Wo bei heißen Telefongesprächen noch eine reale sündige Stimme das hingebungsvolle Busenwunder verheißen mag, taucht der Sex-Chatter vollends ein in die Welt der Imagination: ein Flüsterstündchen für Arme, Entstellte und Feige, mit unsicht-, unhör- und unfühlbarem Gegenüber? Chatten, das bedeutet: man kommuniziert über die Rechner-Tastatur mit Leuten, die sich zur selben Zeit im Weltnetz auf genau derselben Netz-Seite, eben in einer solchen virtuellen Plauderecke (dem chatroom) befinden. Sex-chats haben Konjunktur.

Neben einer Reihe kostenpflichtiger Kanäle (hemmungslose Frauen bieten scharfe chats) gibt es eine Menge weiterer, nicht-kommerzieller Räume zur gliübrigen Unterhaltung für Daheimgebliebene und Zukurzgekommene, auch schlüpfrige Zeitungen wie die Praline oder Coupé unterhalten eigene Erotik-Chats im Netz. Jede dieser Seiten zeigt die dauernd aktualisierte Zahl der anwesenden Chatter an – addiert man diese Angaben, so staunt man darüber, daß sich am hellichten Nachmittag ganze Hundertschaften lüsterner Netznutzer in Deutschland auf der Suche nach diesem merkwürdigen Kick befinden müssen. Wer benötigt solchen im Wortsinne behinderten Sex? Ist es so, wie André bei Pro7 mal über seinen Robert sagte, daß das Internet ein probates Ventil für überschüssige Gelüste ist? Verkehren Internetfreier also nicht nur virtuell? Was reizt – die fehlende Verbindlichkeit, die fehlende Konsequenz, die hier gestattete Faulheit oder die Möglichkeit der perfekten Illusion? Da behaupte noch einer, Männer seien phantasielos... Und was ist von dem hohen Frauenanteil zu halten, mit dem manche Kanäle prahlen? Hinein in den virtuellen Swinger-Club. Bierbäuche, Hühnerbrüste und Panzerbrillen kann man hier nicht sehen, nur eine (Deck-)Namensliste mit dazugehörigen Gesichtern, die aus einem vorgegebenen Bilder-Repertoire ausgewählt werden.

"Joy" nenne ich mich, wähle als visuelle Beigabe eine glutäugige Exotin aus – und betrete die obskure Plauderecke. Was schreibt man denn hier so? "Schmusekater gefällig?" oder "Heiße Maus, bi, sucht scharfen boy". So und ähnlich offerieren die anderen – ja, was offerieren sie eigentlich? Die nächste maschinegeschriebenen Buchstabenfolge mit der einen oder anderen obszönen Vokabel eben. Auf der Leiste mit den Teilnehmernamen finde ich unter anderem Geile Schlampe, Lümmel, Uwe 29 und Hard Boy. Nun könnte ich hier einen Namen anklicken und demjenigen etwas flüstern, was dann nur der Auserwählte lesen kann. Mach ich nicht. Ich schreibe ganz allgemein und schüchtern "Hallo, hier ist Joy" in den Raum. Es dauert. Mr. Big und Ser antworten. "Hey Baby", will Mr. Big mich anmachen, "wie wär‘s mit einem kleinen Ritt?" Wie jetzt , frage ich mich und starre auf den Monitor. "Mhmhm" formuliere ich, wieder dauert es zwei, drei Minuten, dann wieder Mr. Big an Joy: "Stell Dir vor, Du reitest mich." "Ja, aber warum?", will ich fragen, doch noch während ich mir ratlos einen Mann vorstelle, der am frühen Nachmittag Sätze wie diesen in die Tastatur hämmert und das geil findet, ereilt mich der nächste Schrieb von meinem Chat-Partner: Bist Du auch nackt? stöhnt mich die Nachricht an. Ja natürlich, ich kenne überhaupt eigentlich niemanden, der nicht nackt vor seinem Computer hockt. Blödsinn. Tschüß, Mr.Big.

Weiter geht’s. Der Spiegelsaal, der Fahrstuhl und der Fitnessraum im Praline-Lusthotel sind leider besetzt. Nächste Plauderecke. Ich wähle ein Foto, das einen schönen, etwas strengen Frauentyp zeigt und nenne mich "Ulla43". Nur dieser Name ist also den Anwesenden bekannt, noch habe ich nichts verlauten lassen, schon prasseln Nachrichten auf mich ein, "endlich eine reife Frau", "das ideale Alter" und so fort. Vornehm formuliere ich "Suche jungen Mann mit Niveau", und nach Minuten eröffnet sich mir ein breites Angebot an niveauvollen jungen Männern. Ob ich Haare unter den Achseln habe, ob ich Akademikerin sei, werde ich gefragt. Und nach meiner Oberweite und den besonderen Wünschen. Distanziert behalte ich mir die Antworten vor und frage einige Ausgewählte zurück: "Was machst Du hier?" "Wo bist Du?" und, frecher, "Klappt’s bei Dir nur virtuell?" Es dauert. Parzival schreibt, er sei hier, weil er durch seine Frau nicht ausgelastet sei. Da ist natürlich ein Verhältnis mit dem Computer günstig, kichere ich. Andy26 sagt, er sei noch im Büro und chatte heimlich, und Blackboy schreibt was Schmutziges in fast unleserlicher Orthographie. Ich will aber was anderes wissen und frage die drei weiter. Ernüchternd, diese Ulla43 mögen die Lüstlinge sich denken und starten alle beim nächsten Schriftwechsel sinngemäß die "Stell Dir vor, Du reitest mich"-Nummer. Danke, das war‘s. Die Fragen bleiben: Ist Ihnen nicht gut? Schon mal aus dem Fenster geschaut heute...? Warum gibt es so viel Langeweile auf dieser Welt? Wer verbirgt sich hinter Tina, 21, und Kleine Schleckmaus? Ist Umberto hier?


 
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