© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/99 08. Oktober 1999


Gedenken: Zum 150. Todestag von Edgar Allan Poe
Ahnherr der Phantastik
Werner Olles

Edgar Poe kam am 19. Januar 1809 in Boston, Massachusetts, zur Welt. Im Alter von zwei Jahren wurde er Vollwaise. Der Tod seiner Eltern war für ihn der Beginn eines freudlosen Daseins. Dabei schien nach diesem bitteren Ereignis zunächst alles gut zu werden: Ein Ehepaar namens Allan nahm das Kind zu sich und behandelte es wie seinen eigenen Sohn. So wuchs Edgar Allan Poe im Hause des Kaufmanns John Allan in Richmond, Virginia, recht wohlbehütet auf, lebte von 1815 bis 1820 mit seinen Pflegeeltern in Großbritannien und studierte ab 1826 an der Universität von Virginia in Charlottesville. Obwohl ihn die Natur- und Humanwissenschaften zeitlebens interessierten, brach er das Studium alsbald ab, weil er den kalten Funktionalismus des Lehrbetriebs und die Grobschlächtigkeit seiner Kommilitonen nicht ertragen konnte. Andere Quellen sprechen allerdings davon, daß er relegiert wurde, weil er erhebliche Spielschulden gemacht hatte.

Völlig mittellos trat er 1827 in die Armee ein und absolvierte ab 1830 eine Ausbildung an der Militärakademie von West Point, wo er aber bereits ein Jahr später wegen Aufsässigkeit und Ungehorsams unehrenhaft entlassen wurde. Danach wagte Poe eine Existenz als freier Schriftsteller und arbeitete als Journalist und Redakteur für verschiedene Zeitschriften. 1836 heiratete er seine 13jährige Cousine Virginia Clemm. Wegen seines periodischen Alkoholismus und häufiger Konflikte mit seinen Arbeitgebern lebte das Paar jedoch zumeist in recht ärmlichen Verhältnissen. Nachdem seine Frau 1847 im Alter von nur 24 Jahren starb, verfiel Poe vollends dem Alkohol. Nur zwei Jahre nach ihrem Tod verstarb Edgar Allan Poe am 7. Oktober 1849 im Alter von 40 Jahren in Baltimore, Maryland, an einer akuten Alkoholvergiftung.

Dieser amerikanische Dichter mit normannischem Erbteil, der Amerika und Europa gleichermaßen verhaftet war, führte ein Traumleben, und seine Dichtungen sind so phantastisch wie seine Träume. Er wurde zu einem der wichtigsten Schriftsteller der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zuerst in Europa anerkannt, unter anderem durch Charles Baudelaire. Stark beeinflußt von der Romantik Lord Byrons und S.T. Coleridges, sowie vom Rationalismus des 18. Jahrhunderts, war er ebenso bedeutend als Lyriker und Erzähler wie als Literaturtheoretiker. Sein Hang zum Unheimlichen und Schauerlichen, sein schriftstellerisches Talent und seine melodisch-stimmungsvollen Versdichtungen übten eine große Wirkung auf die französischen Symbolisten aus.

Auf dem europäischen Kontinent wurde Poe vor allem als Meister der Kurzgeschichte bekannt, der er auch theoretische Untersuchungen widmete. Er hat meisterhafte Erzählungen geschrieben, wie "Ligeia", "Das verräterische Herz", "Die Maske des roten Todes", "Wassergrube und Pendel", "Der Untergang des Hauses Usher" und "Im Strudel des Maelstroms". Mit der Kriminalerzählung "Der Doppelmord in der Rue Morgue" begründete er die Gattung der modernen Detektivgeschichte, in deren Mittelpunkt die analytisch präzise Verbrechensaufklärung steht. Mit der Erzählung "Der Untergang des Hauses Usher" schuf er einen vollendeten Beitrag zur romantischen Gattung der Schauererzählung. Sein umfangreiches Erzählwerk "Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym" griff die beliebte Thematik des Seeabenteuers auf und beeinflußte in der Verknüpfung von naturwissenschaftlicher Spekulation und phantastischer Erfindung die weitere Entwicklung der Science-Fiction. Zu den besten seiner klang- und stimmungsbetonten, oft um Liebessehnsucht und Vergnüglichkeit kreisenden Gedichte gehören "Tamerlane", das düstere Gedicht "Der Rabe", das allegorische Gedicht "Israfel", und das dunkle rätselhafte Gedicht "Ulalume".

Poe gehörte zu jenen frühen Chronisten des Grauens, die wie Baudelaire, Arthur Machen, Lord Dunsany und H.P. Lovecraft die Chiffren des Phantastischen, die in der in der Romantik halb verborgen und verwirrend widersprüchlich blieben, in die Auseinandersetzung des schrankenlosen Optimismus jener Epoche mit den eigenen absolut pessimistischen Perspektiven für die Zukunft einbrachten. Aber Poe war auch ein Schriftsteller, der hohen ästhetischen Ansprüchen genügte: Ein Autor von symbolischer Kraft, scharfer Beobachtungsgabe, lebendiger Schilderung, unermüdlicher Erfindungskraft und thematischer Originalität.

Weitaus stärker als alle anderen ihm thematisch verwandten Schriftsteller wurde Poe zum Ahnherrn der Phantastik. Dabei spielte der Ideengehalt seiner Erzählungen noch die geringste Rolle, obwohl er gewiß viele Einfälle in die phantastische Literatur eingeführt hat, von denen seither Generationen von Autoren zehren. Niemand hat ihn auf seinem ureigensten Gebiet je übertroffen, und er hat den Grundstein so fest gesetzt, daß Scharen von Epigonen und Apologeten darauf bauen konnten. Nicht von ungefähr zollte Lovecraft, ein anderer Meister des Grauens, ihm mit der Horror-Erzählung "Berge des Wahnsinns" einen Tribut, indem er seinen unverwandten Blick auf die "dunkle Seite" des Mondes (also in die "schlafende" rechtshemisphärische, dunkle, a-logische, "weibliche" Seite unseres Gehirns) richtete, die seit jeher den unnennbaren Schrecken in uns allen auslöst.

Seine Zeitgenossen haben Poe als amüsanten, nicht sehr talentierten Autor verharmlost und seine Sprachartistik, ästhetische Brillanz, innovative Kraft und Formkunst nur in vergleichsweise geringem Maß geschätzt. Doch Poes geistvolle Fiktionen und Betrachtungen, die in seine Epik verwoben sind, nahmen manchen Dichter der Gegenwart voraus, immer drang seine Prosa in unbekannte Räume vor. Feinnervig reagierte er auf eine Wirklichkeit, die er mehr ahnte als sah; daher erscheinen seine Erzählungen bis heute so modern. Sie weisen eine Klarheit des Stils und des Aufbaus und eine Tiefgründigkeit des Gedankens auf, die so zeitlos ist, daß jede Generation aufs neue davon gepackt wird. Von dem weitverzweigten, unendlich reichen Werk dieses tragischen Visionärs, das metaphysische Probleme aufwirft, aber auch schlechthin gute Literatur ist, geht bis heute eine geradezu magische Anziehungskraft aus.


 
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