© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/99 08. Oktober 1999


Hans-Georg Meier-Stein: Die Reichsidee 1918–1945
Geschichte eines Höllenwortes
Malve Suttorp

Im Jahr 1993 erschien im Verlag San Casciano die "Politische Lageanalyse", eine gewichtige Festschrift für den Heidelberger Politikwissenschaftler Hans-Joachim Arndt. Bald darauf folgte das "Lesebuch für einen Selbstdenker": "Der andere Mohler" (1995). Beide Geburtstagspräsente für zwei Exponenten der "Neuen Rechten" gab der Arndt-Schüler Markus J. Klein mit heraus, der im gleichen Verlag gleich noch die eigene Dissertation über Ernst von Salomon plazierte. Zudem kündigte Klein eine ambitiöse Reihe zur Ideengeschichte der "Konservativen Revolution" an. Doch wer nach so furiosem Auftakt glaubte, hier erwachse den Langen Müllers und Stockers rechtsintelligente Konkurrenz, wurde rasch enttäuscht. Denn Kleins Ehrgeiz schien eher darauf gerichtet, berühmt zu werden als Ahasver der Kleinstverleger. Der Firmensitz wechselte nämlich von Bruchsal über Limburg nach Aschau, das nicht wie zu vermuten in Bayern oder Böhmen, sondern nur mit der Lupe auf der Landkarte Thüringens erkennbar bei Rudolfstadt liegt. Als Druckort war auf dem Weg nach Osten ohnehin schon das kostengünstige Debrecen in Ungarn gewählt worden. Unter solchen Umständen schien San Casciano in Umzugskartons begraben zu liegen. Es ist deshalb als logistischer Coup zu würdigen, wenn im vergangenen Jahr aus Aschau ein 500-Seiten-Wälzer den Buchmarkt erreichte: Eine Monographie über die Idee des Reiches zwischen 1918 und 1945, die H.-J. Arndt eingangs pointiert als Beitrag zur Geschichte eines "Höllenwortes" wertet.

Der Verfasser arbeitet die reaktive Struktur der zwischen Mythos, Utopie und Ideologie changierenden Reichsidee zutreffend heraus. Wer seit 1918 vom Reich sprach, wollte keinen imperialistischen "Griff nach der Weltmacht" bemänteln, wie die Einheitsfront der BRDDR-Zeithistoriker von Kurt Sontheimer und Kurt Pätzold bis zu Jost Hermand jahrzehntelang behauptete. Keinen deutschen "Revanchismus" galt es im Rekurs aufs mittelalterliche Reich zu verbrämen, sondern des allein diese Zuschreibung verdienenden Revanchismus der Versailler Diktatmächte, allen voran der chauvinistischen Aggressivität Frankreichs und Polens mußte man sich erwehren. Das Reich war insoweit ein alternatives Ordnungsmodell: innenpolitisch als ein Gegenentwurf zum Weimarer Parteienstaat und die ihn konstituierenden Ideen von 1789, außenpolitisch konzipiert als Widerstandszentrum gegen die Depotenzierung der europäischen Mitte, die den aufsteigenden Weltmächten USA und UdSSR zugute kam.

So befremdlich dies aus der Perspektive des gerade 50 Jahre alt gewordenen Gegen-Reiches anmutet: Das "Reich" war eine Chiffre für den Willen zur politischen, ökonomischen und kulturellen Selbstbehauptung aller Deutschen. Daß es darüber hinaus vielerlei Hoffnungen weckte auf Wiederverzauberung der Welt und unentfremdete Existenz ist nur zu begreiflich.

Hans-Georg Meier-Stein erklärt dies mit dem radikalen Sinnverlust, der das Erbe der Säkularisation war und der um 1900 einen schier unstillbaren Hunger nach "Weltanschauung" auslöste. Reichsentwürfe glichen darum oft metaphysisch überfrachteten Programmen zur Totalerneuerung der verabsolutierten Nation. Gleichwohl formulierten die wenigsten Reichsutopien nationalistische Ansprüche. Es ist Meier-Steins Verdienst, die primär föderalistische, anti-imperialistische Grundierung des Reichsdenkens ausgeleuchtet zu haben. Beginnend bei Constantin Frantz, fortgesetzt in Friedrich Naumanns "Mitteleuropa" (1915) und Giselher Wirsings "Zwischeneuropa" (1932), ist sie noch in den Denkschriften jener SD-Planer virulent, die Adolf Hitlers Politik in letzter Minute auf die "europäische Eidgenossenschaft" verpflichten wollten. Liegt also die eigentliche Stärke der Darstellung darin, die Legitimität des Reichsdenkens unbeeindruckt vom herrschenden Zeitgeist konturiert zu haben, weist das Werk leider doch so eklatante Mängel auf, daß dieser Vorzug dahinter beinahe verblaßt. Dabei muß man gar nicht rekurrieren auf fehlendes Register, laienhaft anmutende Bibliographie, obsessives Zitieren und Referieren leicht zugänglicher Autoren, weitgehende Ignoranz gegenüber der Forschung (Klaus Breunings Werk über katholische Reichsvisionen bleibt so unerwähnt wie Hans Heckers Studie über das Osteuropa-Bild des "Tat"-Kreises), redundante Interpretationssätze (etwa zu Carl Schmitts Reichstheologie) oder Mißachtung der Chronologie, wonach das Schicksal der Reichsidee nach 1933 verfolgt wird, bevor der Verfasser die föderalistischen bzw. katholischen Konzeptionen der zwanziger Jahre Revue passieren läßt.

Ungleich schwerer wiegt der Mangel an historischer Konkretion. Gerade weil der Autor das Reichsdenken auf dem Schlachtfeld verortet, wo gegen "Weimar-Genf-Versailles" gefochten wird, hätte er dessen Handhabung in diesem prosaischen Kontext analysieren müssen. Er deutet dies aber kaum an, wenn er vom "Reich als Manifestation nationaler Selbstbehauptung in den Ostprovinzen" oder fragmentarisch von der Reichsidee der deutschen Geschichtswissenschaft während der NS-Zeit schreibt. Vorstellungen vom föderativen Ostraum wie die des Königsberger Historikers Hans Rothfels finden so wenig Berücksichtigung wie Hans Schwarz und sein Kreis um die Zeitschrift "Der Nahe Osten", wo mit ostelbischem Adel, Landbünden, Studentenschaft und Jugendbewegung zugleich jene "Verfechter des Reichsgedankens als soziale Gruppe" ins Blickfeld geraten wären, die Meier-Stein in seinem so betitelten Mini-Kapitel zwangsläufig nicht erfaßt. Ebensowenig wird die Kontinuität konservativ-bündischen Reichsdenkens nach 1933 thematisiert, seine außenpolitischen Alternativen zu rassenideologisch basierten NS-Konzeptionen, von denen die über "Reich" und "Großraum" die bekannteste ist, die Meier-Stein gleichwohl mit kaum einem Satz erwähnt. Und warum findet man keine Zeile über die Reichsidee bei den Männern des "20. Juli"?

Die vom Verfasser versprochene Gesamtdarstellung der Reichsidee, die ihren Namen verdient, weil sie streng chronologisch mit der Geschichte des Begriffs die seiner institutionellen, sozialen und biographischen Kontexte erzählt und so die komplexe Wechselwirkung zwischen Ideen- und Realgeschichte vermittelt, bliebe also noch zu schreiben.

 

Hans-Georg Meier-Stein: Die Reichsidee 1918-1945. Das mittelalterliche Reich als Idee nationaler Erneuerung, San Casciano Verlag, Aschau 1998, 512 S., 68 Mark


 
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