© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/99 08. Oktober 1999


Debatte um Sloterdijks Biopolitik: Gespräch mit dem Philosophen Robert Spaemann über den Eingriff in die menschliche Keimbahn und die Grenzen des technisch Machbaren
"Planungsgesetze zur Gentechnik wären unerhörter Totalitarismus"
Dieter Stein

Der Präsidenten der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie, Jürgen Mittelstraß, warf Peter Sloterdijk zur Eröffnung des 18. Deutschen Kongresses für Philosophie vor, er habe sich "naiv und unsolide über alle wissenschaftlichen philosophisch legitimierbaren Grenzen" hinweggesetzt. Einmal abgesehen vom Inhalt des Textes: Ist es denn nicht eigentlich Aufgabe von Philosophen, sich an zentrale Zukunftsfragen, wie jetzt diese Gentechnik, heranzumachen und sich zu äußern?

Spaemann: Doch, das ist die Aufgabe der Philosophie. Ich finde es auch nicht richtig, einen Philosophen zur Ordnung zu rufen, weil er das Ansehen der Zunft geschädigt hat. Die Philosophie ist ein anarchisches Unternehmen, und es muß prinzipiell dort jeder das Recht haben, seine Gedanken und seine Argumente vorzutragen. Allerdings, was die Sache betrifft, muß ich Herrn Mittelstraß Recht geben. Herr Sloterdijk hat in den Fragen, die die Bioethik betreffen, Vorschläge gemacht, die sehr unklar sind. Erst war von großangelegter Menschenzüchtung die Rede. Später hieß es, er wolle keine Biopolitik für Gruppen. Das sind widersprüchliche Aussagen, vor allen Dingen aber muß man ihm vorwerfen, daß er zu Fragen Stellung nimmt, die bereits sehr gründlich diskutiert worden sind. Und meiner Ansicht nach gehört es zum Berufsethos des Philosophen, wenn er in eine Debatte eingreift, Stellung zu nehmen zu den Argumenten, die bereits vorgetragen worden sind. Sonst fängt jeder wieder die Geschichte von vorn an. Dann gibt es überhaupt kein ernsthaftes Gespräch. Man kann nicht mit dem Gestus kommen: "Hallo, jetzt komme ich, und alles, was bisher gesagt wurde, interessiert mich überhaupt nicht."

Arbeitet Sloterdijk ihrer Meinung nach schlampig oder rücksichtslos?

Spaemann: Beides. Mindestens hinsichtlich dieser konkreten Themen, die er in seiner Rede anschneidet. Hans Jonas, aber auch manch anderer, Birnbacher, Honnefelder, auch ich selbst, haben sich zu diesen Fragen mit Argumenten geäußert. Man kann eigentlich nicht verlangen, gehört zu werden, wenn man dazu nicht Stellung nimmt.

Nun wird Herr Sloterdijk ja gehört in der Öffentlichkeit – er beklagt sich aber über eine gewisse Form der diffamierenden Kritik, die nicht wirklich eingeht auf das, was er gesagt hat.

Spaemann: Ich beklage das auch! Ich bin gegen jede Art von political correctness in der Philosophie, aber er kann sich nicht be-klagen, da er selbst mit diesem Spiel begonnen hat.

Wie sehen Sie denn die Zukunft des Menschen unter Voraussetzungen der Gentechnik?

Spaemann: Ich denke, daß es ein falscher Gedanke ist, wir könnten das, was bisher durch Erziehung oder auch durch Heiratspolitik in bestimmten Kreisen, erreicht wurde und heute vielleicht nicht mehr erreicht wird, ersetzen durch Eingriffe in das, was Sloterdijk die "erste Natur des Menschen" nennt. Er spricht manchmal von der ersten und der zweiten Natur. Die erste ist sozusagen die ungebändigte, natürliche Natur des Menschen; die zweite Natur ist das Produkt von Erziehung, von Sozialisation. Sloterdijk möchte nun gleich bei der ersten Natur ansetzen, nämlich durch direkten Eingriff in die Genstruktur des Menschen. Das ist qualitativ etwas vollkommen anderes, als was die Menschheit bisher getan hat. Es ist meiner Ansicht nach etwas Falsches, etwas, was wir nicht verantworten können, weil es in den Folgen unabsehbar ist. Wir haben langsam begriffen – im Bereich der Politik – daß Zentralplanung den Markt nicht ersetzen kann. Millionen von kleinsten Vorgängen, die schließlich zu bestimmten Ergebnissen führen, können nicht ersetzt werden durch Einzelne, die das Ganze in die Hand nehmen. Das gilt erst recht für die Prozesse, die sich in der Natur im Laufe von Jahrmillionen abgespielt haben.

Was machen Sie, wenn auch die Frage der Gentechnik über das freie Spiel der Kräfte gelöst wird, daß jeder subjektiv entscheidet, wie weit er geht bei der Programmierung seiner Nachkommen, also wenn es nicht, wie Sie sagen, zentral gesteuert wird?

Spaemann: Das ist eben keine Privatsache. Wer in die Keimbahn eingreift, programmiert seine ferne Nachkommenschaft auf eine Weise, die er gar nicht in ihren Folgen abschätzen kann. Er will bestimmte Merkmale fördern – Sloterdijk spricht von Merkmalplanung –, aber jedes Merkmal im menschlichen Genpol hat ja seine bestimmte Funktion nur im Zusammenhang mit allen anderen Merkmalen. Welche Rolle es da spielen wird, ist unabsehbar. Was hat es für einen Sinn zu sagen, die Leute sollten alle intelligenter werden? Vielleicht ist es ja eine Katastrophe, wenn die Menschen mit ihren übrigen Eigenschaften, die sie behalten, auch noch alle intelligenter wären. Wie wollen wir denn das wissen? Das Argument ist unter anderem dieses: Bisher ist es dem Zufall überlassen gewesen, und was kann schlecht daran sein, wenn Menschen planmäßig etwas tun, das bisher zufällig geschah. Aber die Summierung kleinster Zufälle bedeutet nicht dasselbe wie ein bewußter Eingriff, der die Genstruktur manipuliert. Was wollen Sie machen, wenn zum Beispiel alle Leute sagen würden, wir wollen nur noch Jungen haben? Es gäbe keine Mädchen mehr. Dann muß man die menschliche Fortpflanzung politisch zentral planen.

Aber ist das nicht bereits im Griff des Menschen? Reden wir nicht über etwas, was bereits passiert?

Spaemann: Das passiert ja bisher noch nicht. Und ob es passiert – falls es überhaupt möglich ist –, ist eine Frage, die wir zu entscheiden haben. Wir sind heute in einer Situation, in der die Vorstellung, alles Machbare wird gemacht, revidiert werden muß. Es gibt Situationen, in denen ein qualitativer Sprung uns zwingt, traditionelle Verhaltensweisen zu überprüfen. Dieses uneingeschränkte "Machen, was man machen kann" geht nicht mehr, weil die Folgelasten von uns nicht getragen werden können.

Ihnen geht es um den christlichen Schöpfungsbegriff?

Spaemann: Nein. Sloterdijk meint immer, daß die Leute, die ihn kritisieren, irgendwie denken, man dürfe nicht verändern, was Gott geschaffen hat. Ich glaube tatsächlich, daß die Würde des Menschen einen theologischen Grund hat. Aber die Religion belehrt mich nicht darüber, wodurch diese Würde verletzt wird. In den Argumenten, die ich vorlege, kommen die Worte "Gott" und "Schöpfung" überhaupt nicht vor.

Wie wollen Sie nach dem Abräumen von religiösen und ethischen Positionen in westlichen Gesellschaften einen Konsens herstellen, wie man einen Konsens herstellen soll über die Grenze des Machbaren?

Spaemann: Durch ernsthaftes Gespräch, das bereit ist, ins Detail zu gehen. Nehmen Sie das Klonen. Auf den Einwand, geklonte Menschen seien in ihrer Menschenwürde nicht respektiert, erwidert Sloterdijk, man solle doch eineiige Zwillinge fragen, ob sie sich in ihrer Menschenwürde verletzt fühlen. Das Argument nimmt überhaupt nicht zur Kenntnis, was bisher zum Thema Klonen gesagt wurde. Das Problem des Klonens ist nicht, daß ein zweiter Mensch mit der gleichen Genstruktur existiert wie ein anderer, sondern daß dieser zweite Mensch zeitlich versetzt ist. Ein geklonter Mensch sieht, wenn er im Entwicklungsalter ist, seinen eineiigen Zwilling im Alter von 30 oder 40 Jahren vor sich. Es wird ihm damit eine unerträgliche Last aufgebürdet, die offene Zukunft wird ihm verstellt, es wird ihm gesagt, "so wirst du aussehen, so wird ungefähr dein Leben verlaufen, so werden deine Eigenschaften sein". Das muß ihn erdrücken. Oder aber er rebelliert dagegen und sagt: "Ich werde euch zeigen, daß überhaupt nichts davon der Fall ist." Dann wird er entgegen seiner eigenen Triebstruktur das Gegenteil von dem tun, was man von ihm erwartet, um sich selber zu beweisen, daß er frei ist. Aber zu diesem Zweck hat man ihn nicht geklont. Wie Sie die Sache auch drehen und wenden, man muß sich einlassen auf das Thema: "Was bedeutet es, einen Zwilling vor Augen zu haben, der 30 Jahre älter ist als man selbst?" Das ist aber schon längst gesagt worden, und Sloterdijk gibt nicht die Spur eines Argumentes gegenüber diesem Einwand, sondern er redet von eineiigen Zwillingen. Das ist schlechte Rhetorik.

Welche Schranken gibt es überhaupt noch, die Sie den Menschen entgegenstellen können, alles Machbare zu machen?

Spaemann: Das kann nur der Mensch selbst sein. Es kann nur ein politischer Konsens sein, bestimmte Dinge nicht zuzulassen. Wenn es nicht die Menschheit als ganze ist, die sich diese Schranken auferlegt, dann können es immer noch einzelne Staaten sein, die sagen, wir wollen das nicht. Wir halten es nicht für vertretbar, daß Menschen in einem solchen Ausmaß das Produkt des Willens anderer Menschen sind. Sloterdijk sagt, daß sich das Freiheitsrecht des Menschen nicht auf seine eigene Entstehung beziehe. Das ist natürlich richtig. Niemand hat es gewählt, geboren zu werden, und niemand hat es gewählt, als dieser geboren zu werden, der er ist. Aber bisher können seine Eltern ihm sagen: "Du verdankst deinen Ursprung den gleichen Kräften, denen wir den unsrigen verdanken". Angenommen, ein Kind würde sich bei mir und seiner Mutter beklagen, daß wir es in die Welt gesetzt haben. Ich würde mit Gottfried Benn sagen: "Liebes Kind – glaub doch nicht, daß ich an euch dachte, als ich mit eurer Mutter ging. Ihre Augen wurden immer so schön bei der Liebe! Deine Entstehung geschah von Natur. Und meine auch." Würde ich aber diese Existenz tatsächlich im vollen Sinne zu verantworten haben, wie sollte ich das? Das beginnt übrigens schon mit der Retortenzeugung, weil hier auch gemacht und nicht gezeugt wird. Hier wird ein Mensch durch einen Gewaltakt ins Dasein gebracht. Ein solches Kind könnte von mir Rechenschaft verlangen, warum es in der Welt und warum es so ist, wie es ist. Diese Rechenschaft kann ich nicht geben, weil ich das Leben eines Menschen nicht verantworten kann. Ich muß es auch nicht, weil es die Natur gibt.

Doch hier sind die Dämme schon gebrochen – in bezug auf die Retortenzeugung.

Spaemann: Das ist richtig, das wird gemacht, und ich halte das nicht für gut. Die andere Barriere unterscheidet sich aber noch einmal deutlich von dieser, denn es ist noch einmal ein Unterschied, ob die genetische Struktur eines Mannes und einer Frau verbunden werden oder ob in diese Struktur direkt eingegriffen wird. Den weitaus wichtigeren Damm haben wir noch nicht durchbrochen. Da meine Ansicht von Politik sowieso diejenige ist, daß Politik im wesentlichen im Aufhalten des Schlimmsten bestehen muß, ist es für mich auch kein Argument, daß irgend etwas doch irgendwann kommen wird. Da kann ich nur sagen, daß ich das nicht weiß, aber man kann das Schlechte immerhin für eine gewisse Zeit aufhalten. Das ist ja auch schon etwas.

Gibt es auch ein ideologisches Interesse, das Geheimnis der Entstehung des Menschen der Familie zu entziehen und es in andere Hände zu legen?

Spaemann: Ja – es überhaupt in Hände zu legen. Jeder hat eine Vorstellung davon, was zur Würde des Menschen gehört. Jemand, der völlig frei ist von einer Weltanschauung, wäre ein Mensch, von dem wir sagen: "Der ist zu allem fähig". Menschen, die zu allem fähig sind, sind aber Menschen, denen wir normalerweise nicht trauen.

Stehen wir angesichts der gentechnischen Möglichkeiten vor neuen Totalitarismen?

Spaemann: Wenn man einmal anfängt, in die menschliche Gen-Struktur planend einzugreifen, dann wäre die Anarchie nicht mehr tolerierbar. Nehmen wir einmal an, es wäre plötzlich Mode, nur noch Mädchen oder nur Jungen in die Welt zu setzen. Das wäre gesellschaftspolitisch eine solche Katastrophe, daß man dann die Sache in politische Regie nehmen müßte. Das wäre Totalitarismus. Deshalb sollte man damit auch nicht anfangen. Immer wenn Menschen Dinge in Gang setzen, die außer Kontrolle geraten, muß die politische Macht eingreifen. Nehmen Sie die Umweltverschmutzung: Das ist längst ein politisches Thema. Es gibt Gesetze, die bestimmte Dinge verhindern. Früher war die Macht des Menschen nicht so groß, da konnte man Dinge einfach in die Natur schmeißen, und die Natur war stark genug, alles zu verdauen. Jetzt sind die Menschen stärker, deshalb müssen Gesetze her. Dies wird auch im Bereich der Gentechnologie der Fall sein. Diese Gesetze sollten nur Verbotsgesetze sein. Positive Planungsgesetze wären ein bisher unerhörter Totalitarismus.

Man prognostiziert für das nächste Jahrhundert eine Explosion der Weltbevölkerung auf zehn Milliarden oder sogar sehr viel mehr Menschen. Welche Vision haben Sie in diesem Zusammenhang?

Spaemann: Mir scheint, daß im Zusammenhang mit der stetigen Ausbreitung allgemeinen Wohlstandes – notfalls auch durch dessen schrittweise Absenkung in Europa und Amerika – sich die Bevölkerungsvermehrung mindern wird. Die Prognosen gehen davon aus, daß sich die Vermehrung der Weltbevölkerung verlangsamen wird, und zwar mit exponentieller Geschwindikeit. Insofern sehe ich hier keine Katastrophe auf uns zukommen.

Von Bevölkerungspolitik halten Sie nichts?

Spaemann: Es kommt darauf an, was man darunter versteht. Ich kann mich nicht mit der chinesischen Politik anfreunden, die es unter Strafe stellt, ein zweites Kind zu bekommen. Man weiß ja auch nicht, was aus einer Nation wird, die aus lauter Einzelkindern besteht. Eine elementare Erfahrung des Menschen ist es ja, Geschwister zu haben – mir ist diese Erfahrung leider versagt geblieben. Es ist unvorstellbar, daß die elementaren Beziehungen zu einer Schwester oder einem Bruder, die von vollkommen anderer Art sind als alle anderen menschlichen Beziehungen, daß diese verboten werden.

Sie gelten als konservativer Philosoph: Wie sehen Sie die Position eines Konservatismus im 21. Jahrhundert?

Spaemann: Das ist nicht so schnell zu beantworten. Der Titel des Konservativen wird einem von außen gegeben. Ob Sie links oder rechts sind, hängt überhaupt nicht von Ihnen ab, sondern davon, wo die anderen stehen. Sie können sagen, Sie sind ein Linker, aber plötzlich stehen mehr Leute links von Ihnen als rechts. Dann sind Sie ein Rechter. Das haben Sie selber nicht in der Hand. Das ist mit "konservativ" so ähnlich.

Ein Wesensmerkmal des Konservativen scheint doch aber die Skepsis gegenüber dem Fortschritt und dem Machbarkeitsglauben zu sein.

Spaemann: Das ist richtig. Nachdem man mich lange genug als Konservativen bezeichnet hat, bin ich wohl auch einer. Um mit Nestroy zu reden, finde ich, daß der Fortschritt größer aussieht, als er ist. Man muß vor allem skeptisch sein gegenüber dem Gebrauch des Wortes Fortschritt im Singular. Es gibt Fortschritte in der Krebsbekämpfung oder Fortschritte auf anderen Gebieten, z. B. in der Produktion von biologischen und chemischen Waffen – der Singular "Fortschritt" ist aber ein reiner Mythos, der geeignet ist, uns alle zu benebeln. Insgesamt können wir die Entwicklung kaum wertend beurteilen. Das Interessante ist, daß die meisten Menschen in Europa und Amerika heute auch nicht mehr auf Fortschritt hoffen, sondern daß sie ihn als ein Verhängnis ansehen. Um zum Thema Gentechnik zurückzukommen: Das Argument der meisten Menschen heute ist nicht mehr, daß wir bestimmte Dinge tun müssen, weil das wunderbar ist, sondern sie sagen: "Was wollen Sie denn machen, das können wir doch sowieso nicht aufhalten". Das ist dann kein klassisches Fortschrittsargument, sondern ein fatalistisches Argument. Ich werde mich bis ans Ende meines Lebens mit diesem Fatalismus nicht anfreunden. Das mindeste für einen Philosphen ist, daß man ihn nicht zwingen kann, das, was ohnehin kommt, auch noch gut zu finden.

Wir werden im kommenden Jahrhundert noch stärkere Bestrebungen nach größeren Einheiten, Fusionen und Zusammenschlüssen, nicht zuletzt auf staatlicher Ebene erleben. Ist diese Einebnung auch von kulturellen Unterschieden ein unaufhaltsamer Prozeß oder kann dies auch wieder in eine neue kulturelle und politische Zersplitterung umschlagen?

Spaemann: Langfristig wird diese "eine Welt" eine Folge der Entwicklung der Produktivkräfte sein. Da hat der marxistische Gedanke recht. Schon Gorbatschow hat argumentiert, als er den Kommunismus liquidierte, daß bei der modernen Informationstechnik eine geschlossene Gesellschaft nicht mehr möglich ist. So wird es langfristig zu dieser "einen Welt" kommen, wenn ich auch nicht sagen könnte, daß ich diese Entwicklung gut oder schlecht finde. Wir müssen versuchen, dieser Entwicklung eine positive Wendung zu geben, und wir dürfen nicht versuchen, sie auch noch zu beschleunigen. Wenn diese Entwicklung kommt, und wenn sie nicht katastrophal sein soll, dann muß sie sehr langsam gehen. Eine vernünftige Politik muß heute eher daran ausgerichtet sein, gegenzusteuern, auch die Besonderheit zu verteidigen, aber nicht mit dem Fanatismus, als ob man das letztlich aufhalten könne. Man muß den Prozeß verlangsamen.

Noch einmal zurück zu Sloterdijk: Wie bewerten Sie den Bezug Sloterdijks auf antike Philosophen bei seiner Forderung nach einer Zahl von Weisen, die Macht über wesentliche Entscheidungen haben?

Spaemann: Man muß Platons Meinung über die Wahrscheinlichkeit der Herrschaft des Philosophen kennen. Die Wahrscheinlichkeit war für ihn nahe Null. Platon hat neben der "Politeia" die "Nomoi" geschrieben, die "Gesetze". Das war sein realistischer Entwurf. Die klassische politische Philosophie, die letztlich auf Platon zurückgeht, war immer der Meinung, daß ein gemischtes Regime am besten sei. Die Idee der Philosophenherrschaft dient dazu, uns einen Maßstab vor Augen zu halten: diejenigen politischen Entscheidungen sind die besten, die denen am nächsten kommen, die ein solcher Weiser treffen würde, wenn es ihn gäbe und wenn er die absolute Entscheidungsvollmacht hätte. Es ist aber gar nicht wünschenswert, einem Menschen oder einer kleinen Gruppe von Menschen solche Vollmachten zu geben, weil es überhaupt keinen Mechanismus gibt, der uns garantiert, daß es wirklich die Weisen sind, die an eine solche Stelle kommen. Sloterdijk macht auch nicht die Spur eines Versuches, uns einen solchen Mechanismus zu zeigen. Hinzu kommt, daß der Weise bei Platon jemand ist, der überhaupt kein Interesse daran hat, zu regieren. Wenn man sich auf Platon beruft, dann muß man auch die Skepsis Platons berücksichtigen. Meiner Ansicht nach ist es heute im Bereich der Politik richtiger, dem Schlimmsten vorzubeugen, als das Beste zu erstreben.

Das ist ja dann ein direkter Gegensatz zu Nietzsche, auf den sich Sloterdijk auch beruft, der meinte, was fällt, müsse gestoßen werden.

Spaemann: Das gehört zu den verhängnisvollen Ideen Nietzsches. Beschleunigung ist gegen den Menschen gerichtet. Gewohnheit ist eine Form von Freiheit. Die Griechen haben im sechsten Jahrhundert vor Christus Tyrannis als die Herrschaft definiert, die die Menschen zwingt, aus ihren Gewohnheiten herauszutreten. Freiheit ist demgegenüber das Recht, auf gewohnte Weise leben zu dürfen. Wenn dem Menschen das Gewohnte genommen wird, dann wird er unfrei gemacht. Ich kann nicht erkennen, daß permanente Veränderung ein Zuwachs an menschlicher Freiheit ist. Die Beschleunigung bringt eine Vermehrung von Zwängen. Darum bin ich der Meinung Davilas, der sagt, er kenne nur eine einleuchtende Definition von Menschenwürde – alles langsam tun.

 

Prof. Dr. Dr. h. c. Robert Spaemann ist einer der bedeutendsten katholischen und konservativen Denker in Deutschland. 1927 in Berlin geboren wuchs Spaemann in Köln auf, studierte Philosophie, Geschichte, Theologie und Romanistik in Münster, München, Fribourg und Paris, 1952 promovierte er bei Joachim Ritter über De Bonald; 1962 Habilitation; Lehrtätigkeit an Universitäten in Stuttgart, Heidelberg, München, Gastprofessuren an der Sorbonne, Rio de Janeiro und Salzburg. Seine Werke sind in 13 Sprachen übersetzt.

Wichtigste Veröffentlichungen: "Die Frage wozu – Geschichte und Wiederentdeckung des theleologischen Denkens", "Glück und Wohlwollen. Versuch über die Ethik", "Personen. Über den Unterschied zwischen ’etwas’ und ’jemand’".


 
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