© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/99 08. Oktober 1999


Literatur: Der Schriftsteller Günter Grass erhält nach Jahren der Anwartschaft den Nobelpreis
Es zerspringt kein Glas mehr
Doris Neujahr

Nun hat Günter Grass doch noch den Literatur-Nobelpreis bekommen, der ihm lange vorausgesagt wurde, an den aber niemand mehr so recht geglaubt hatte. Denn längst hat er den Zenit seines litarischen Schaffens überschritten, zu lange liegen seine wirklich wichtigen Bücher schon zurück, zu beliebig ist seine literarische Produktion der letzten zwanzig Jahre. Nur noch von fern und mit Grausen erinnert man sich an seinen Wiedervereinigungsroman "Ein weites Feld" (1995). Kaum besser steht es um sein neuestes, sein "Jahrhundertbuch" (1999), das hier vor Wochen als "leicht konsumierbare, biedere Altherrenprosa" bezeichnet wurde.

Den Juroren aber wird dieses Buch gefallen haben: Es besiegelt, daß Grass seinen Frieden gemacht hat mit diesem Staat, politisch und ästhetisch, und zum Staatsdichter der Bundesrepublik geworden ist. Eben das steigerte seine Chancen auf den Preis, denn das Nobelpreis-Komitee geht kaum einmal Risiken ein, sondern zeichnet in Ehren ergraute Klassiker aus. Preisverleihungen wie die an den damals erst 44jährigen Albert Camus 1957 oder an Alexander Solschenyzin 1970 oder die Albernheit um Dario Fo 1997 bestätigen diese Regel nur.

Manchmal scheint Grass über seine quasi-offizielle Position selber erschrocken zu sein und beginnt dann zu poltern. Das gibt Anlaß, ihn als engagierten Zeitgenossen, großen Moralisten, kritischen Intellektuellen zu preisen. Sein unappetitlicher Vergleich des weltweit einmaligen deutschen Asylrechts mit den ethnischen Säuberungen im Kosovo ist jedoch eher ein Beleg dafür, daß die wohlklingende Theorie von der moralischen kritischen Gegenmacht der Literaten längst zum Freibrief für politischen Dilettantismus geworden ist, den sich eine saturierte Erregungs- und Spaßgesellschaft allemal leisten kann.

Seine maßlose Kritik produziert darin folgenlose Erregung. Oskar Matzerath mag schreien, soviel er will, es zerspringt kein Glas mehr. Längst steht er damit Arabella Kiesbauer näher als Lessing. Daß Grass immer wieder auf diesen Mechanismus hereinfällt, ist auch Ausdruck seiner eigenen Unsicherheit in einer veränderten Gesellschaft.

Aber den Preis hat nicht der politisierende Narr erhalten, sondern der geniale Geschichtenerzähler. Mit der nötigen Unvoreingenommenheit wird man zugeben müssen, daß sein Werk in seinen besten Teilen zum bleibenden Inventar der deutschen Nachkriegsliteratur gehört. Es spiegelt ein heute seltenes Streben nach dichterischer Universalität wider, denn Grass hat sich in sämtlichen literarischen Gattungen – Prosa, Dramatik und Lyrik – mit unterschiedlichem Erfolg versucht.

Martin Walser hat recht: Allein der 1959 erschienene Roman "Die Blechtrommel", der ein Welterfolg wurde und eine Karriere begründete, hat den Preis schon lange gerechtfertigt. Die Hauptfigur, der kleinwüchsige Oskar Matzerath, ist eine der bekanntesten literarischen Gestalten der deutschen Literatur und zeitigt künstlerische Folgen bis in die Gegenwart. Den Grass’sche Kunstgriff – eine Geschichte aus der verschrobenen Perspektive eines physisch und psychosozial auffälligen Helden zu erzählen und die Verkehrtheit der Normalität evident zu machen, indem man sie gleichsam bis zur Kenntlichkeit entstellt – hatte zuletzt der Berliner Autor Thomas Brussigs in seinem Bestseller "Helden wie wir" (1995) adaptiert und variiert. Auch der amerikanische Schriftsteller John Irving hat in dem Roman "Owen Meany" (1989) seinem deutschen Kollegen mit einer Hommage auf Oskar Matzerath gehuldigt. Der scharfsichtige wie scharfzüngige Gnom, der im Alter von drei Jahren das Wachstum und mithin das Erwachsenwerden verweigert und damit beschäftigt ist, sich auf seinem Instrument die Welt heranzutrommeln und gleichzeitig vom Leibe zu halten, ist seit der deutschen Wiedervereinigung nochmals zum Symbol der alten Bundesrepublik geworden.

Doch das ist nur die eine Seite dieses Buches. Es steht genauso in der Tradition des deutschen Bildungs- und Schelmenromans und dokumentiert die tiefe Verwurzelung seines Autors in der deutschen Kultur- und Literaturgeschichte. Die Erzählperspektive, so ungewöhnlich und schockierend sie sich zunächst ausnimmt, erweist sich bei genauem Hinsehen als konventionelle, über den Dingen stehende Erzählinstanz, die es nach verbreiteter Auffassung im modernen Roman gar nicht mehr geben durfte. Doch genau diese Mischung aus Modernismus und Tradition, versetzt mit Ironie, Selbstironie und Groteske, macht in Verbindung mit den plastisch gestalteten Figuren und der sinnlichen Sprache die einzigartige Wirkung der Grass’schen Prosa aus.

Der Roman spielt in Danzig, wo er am 26. Oktober 1927 im Vorort Langfuhr als Sohn eines Kolonialwarenhändlers geboren wurde. Es folgte 1961 die Novelle "Katz und Maus", eine gallige Abrechnung mit dem militärischen Heldenkult. Der Hauptfigur Joachim Mahlcke hat die Natur einen übergroßen Adamsapfel mitgegeben. Um den Defekt vor seinen höhnischen Danziger Mitschülern zu verbergen, trägt er ein Ritterkreuz und wird wegen dieser Anmaßung um so mehr zur Zielscheibe des Spottes. Als er im Krieg die höchste militärische Auszeichnung tatsächlich erwirbt, nimmt keiner sie mehr ernst, und Mahlcke, der keine Möglichkeit sieht, von der Umwelt jemals anerkannt zu werden, geht ins Wasser.

1963 legte Grass den Roman "Hundejahre" vor, der ähnlich wie die "Blechtrommel" ein Geschichtspanorama von der Vorkriegszeit bis in die fünfziger Jahre entrollt. Die drei Bücher wurden nachträglich als "Danziger Trilogie" bezeichnet und etablierten endgültig den Ruf ihres Autors als einer der wichtigsten deutschen Schriftsteller.

Bis in die jüngste Vergangenheit ist er auf sein Danziger Urerlebnis zurückgekommen, zuletzt im melancholischen Roman "Unkenrufe" (1992), der die Altersliebe zwischen einem in Westdeutschland wohnhaften Danziger und einer im heutigen Gdànsk lebenden, aus Wilna gebürtigen Polin erzählt. Auf dem von Grass selbst gestalteten Einband des Romans "Die Rättin" (1986) ist die eindrucksvolle Silhouette der "Königin der Ostsee" mit der Marienkirche und dem Rechtsstädtischen Rathaus zu sehen.

In der "Solidarnosz"-Bewegung der späten siebziger und achtziger Jahre meinte er, den widerständigen Geist seiner Heimatstadt zu spüren. Polen hat es ihm gedankt; er ist dort der populärste deutsche Gegenwartsautor. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes verliehen ihm die Universitäten in Posen und Danzig die Ehrendoktorwürde.

Seinen politischen Einsatz hat Grass in verschiedenen Büchern reflektiert; für seine künstlerische Entwicklung erwiesen sich diese Ausflüge als unfruchtbar. Erst mit dem Roman "Der Butt" (1977), der in spielerischer Form von Mythen, geschichtlichen Brüchen und der Ablösung des Matriarchats durch das Patriarchat erzählt und wiederum im Ostseeraum angesiedelt ist, erlebte er eine triumphale Rückkehr in die literarische Szene. In einem letzten großen Wurf, der Erzählung "Das Treffen in Telgte" (1979), das ein fiktives Schriftstellertreffen gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges schildert (und zugleich eine verschlüsselte Huldigung an die Gruppe 47 ist), hat er ironisch die Machtlosigkeit der Literatur und der Dichter eingestanden. Sein von Apokalypse-Stimmungen geprägter Roman "Die Rättin" (1986) fand bei Kritikern hingegen keine Gnade.

Nun wurde Günter Grass mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, weil er in "munteren schwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet" hat. Und es sind nicht gerade wenige, die sich darüber freuen, daß am Ende dieses Jahrhunderts die deutsche Literatur in seiner Person mit dieser weltweit bedeutsamsten Auszeichnung bedacht wurde.


 
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