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Neue Politik: Aus dem Zerfall der Meinungs-Linken wird ein neues politisches Bewußtsein
Im Westen was Neues
Dieter Stein

Die Österreicher wählen zu über 27 Prozent eine Partei, vor der Medien nachdrücklich gewarnt haben, ein Philosoph hält einen Vortrag, den er unerlaubterweise nicht hat vom Großmeister der bundesdeutschen "herrschaftsfreien" Staatsphilosophie Korrektur lesen lassen. Empörung allerorten, schon wieder läuft nicht alles nach Plan: Nach dem Plan eines linksliberalen Establishments, dem die Felle zusehends davon schwimmen.

Jörg Haider und die FPÖ sind Ausdruck eines spezifischen Repräsentationsdefizits des österreichischen Parteiensystems. Die ewige Stilisierung Haiders zum halbfaschistischen "Rechtspopulisten" offenbart die verklemmte Weise, in der das alte Politik- und Medienmonopol auf neue Regungen politischen Selbstbewußtseins reagiert.

Zehn Jahre nach dem Mauerfall sind die durch den historischen Zusammenbruch des sowjetischen Machtblocks und der Aufhebung der Spaltung Deutschlands ausgelösten tektonischen Verschiebungen immer deutlicher zu spüren. Die, durch die historische Wende von 1989 ausgelösten Erschütterungen haben manche festgeglaubten Grundmauern so mürbe gemacht, daß kleine Nachbeben genügen, um scheinbar stabile Gebäude in sich zusammensinken zu lassen.

Was die Nachbeben in seismisch gefährdeten Zonen, sind die Geschichtsdebatten in der Zone des Politischen in Mitteleuropa. Der Historikerstreit von 1986, bei dem der damals noch allmächtige Jürgen Habermas in einer breiten Kampagne alles tat, um die Ächtung des Historikers Ernst Nolte als Person und Denker durchzusetzen, erweist sich im nachhinein als erste Erschütterung vor dem großen politischen Beben. Vordergründig ging es beim Historikerstreit um die "Singularität" deutscher Verbrechen, um die "Unvergleichbarkeit" von Kommunismus und Nationalsozialismus. In Wahrheit ging es um die Interpretationsmacht über die Geschichte und die Frage, ob die machtpolitisch bedingte, unmenschliche Absurdität der deutschen Teilung, von Habermas für vernünftig erklärt, ideologisch abgestützt werden konnte. Habermas konnte im Historikerstreit nicht zuletzt deshalb siegen, weil dieser Streit im Schatten der Mauer ausgefochten wurde, die seinem Argument durch ihre schiere Existenz recht zu geben schien. Dieser Position entzog der 9. November 1989 und das Ende der deutschen Teilung die faktische Basis.

Wer den Historikerstreit, die Diskussion um Botho Strauß, die Walser-Bubis-Debatte und die Kontroverse um Sloterdijk verknüpft, kann den inneren Zusammenhang nicht verkennen: "Sämtliche deutsche Großdebatten des vergangenen Jahrzehnts – ob der Walser-Bubis-Streit vor einem Jahr, die Polemik um Botho Strauß’ ’Anschwellenden Bocksgesang’, der Historikerstreit über die Singularität von Auschwitz und die Auseinandersetzung über das Holocaust-Mahnmal in Berlin – drehten sich um die Interpretationshoheit über die Gegenwart, die sich in Deutschland immer noch und unweigerlich im Verhältnis zur jüngsten Vergangenheit, vor dem Hintergrund des Völkermordes an den Juden entscheidet: Wer sagt, wie die Lage ist – und mit welchen Worten?" (Reinhard Mohr) Was aber ist die Lage, wer definiert sie? Im Historikerstreit steht Habermas, nicht zimperlich im "wissenschaftlichen" Umgang mit Zitaten, längst blamiert da. Nolte hingegen ist, nicht zuletzt dank der Debatte mit ausländischen Kollegen, allen voran der verstorbene François Furet, längst glänzend rehabilitiert.

Zur neuen Habermas-Erregung: Über den Inhalt der Sloterdijk-Thesen ließe sich trefflich streiten. Seiner Rechtfertigung des Eingriffs in die Erbsubstanz des Menschen muß entgegengetreten werden. Zu Recht warnt Robert Spaemann (siehe Interview auf Seite 8-9) vor derartiger Selbstermächtigung des Menschen.

Jenseits der Sloterdijk-Rede geht es aber um mehr: Es geht um die Steuerung öffentlicher Debatten von den Feldherrenhügeln linksliberaler Meinungsmacher, die glauben bestimmen zu können, wer "diskursfähig" ist und wer nicht. Es geht um die Frage, ob Habermas oder ein anderer sagen kann: "Wer Faschist ist, bestimme ich".

Thomas Assheuer vermerkt in der Zeit deshalb zurecht in Panik, ob es Sloterdijk "wirklich nur um Gentechnik" geht, oder um mittlerweile mehr: "Nun liegen die Karten auf dem Tisch. Die Berliner Republik gewinnt an Kontur. Im Schlagschatten von Sloterdijk versammelt sich die Koalition derer, die den ’Geist der Bundesrepublik’ überwinden wollen. Das ist ihr gutes Recht. Doch damit ... eröffnen sich Aussichten auf den geistigen Bürgerkrieg. Eine Kulturkritik, mit aggressivem Ressentiment gegen Sozialstaat und ’Massenkultur’ aufzuladen, ist durchaus geeignet, die demokratische Kultur zu vergiften." Nur: Den ersten Schuß in diesem geistigen Bürgerkrieg haben Leute wie Assheuer selbst abgegeben, indem sie die demokratische Redefreiheit einschränken wollen.

Man kann es auch tiefer hängen: Wir brauchen in Deutschland, in den westlichen Demokratien, dringend harte, an die Substanz gehende Auseinandersetzungen um die Fragen der Zukunft. Was soll den Menschen noch aufhalten, das Machbare zu versuchen? Wenn sich diejenigen, die sich wie Habermas als "Aufklärer" am Abbruch religiös-ethischer Normen und Rechtsnormen beteiligt haben, nun auf das christliche Abendland berufen, so ist das ein Treppenwitz. Die linksliberalen Moralapostel verweisen auf den geistigen Trümmerhaufen, den sie selbst mit angerichtet haben.

Zwiespältiges Ergebnis der Kampagnen ist, daß sich die Angegriffenen – Strauß, Walser, Sloterdijk, Rabehl – zwar immer häufiger standhaft wehren, daß ihre Stimme aber, über den eigenen Fall hinaus, verstummt. Andererseits zeigt sich am Fall Sloterdijk eine geistige Allianz all jener – von "links" bis "rechts" – die sich jenen brennenden Zukunftsherausforderungen stellen, deren Debatte die Meinungswächter blockieren wollen: Welche Antworten finden wir auf die Explosion der Weltbevölkerung, den Einwanderungsdruck nach Westeuropa, die Auflösung sozialer Bindungen, die Vernichtung kultureller, regionaler und nationaler Identitäten? Lange wird die politische Klasse diese Debatten nicht mehr aussitzen können. In der diskutierenden Klasse keimt bereits Widerspruch, ein neues (Problem-) Bewußtsein kündigt sich an.


 
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