© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/99 01. Oktober 1999


Ausstellung: "Das XX. Jahrhundert" in drei Berliner Museen
Zeugnis von Gelassenheit
Doris Neujahr

Mit der Großausstellung "Das XX. Jahrhundert. Ein Jahrhundert Kunst in Deutschland", die kürzlich in Berlin eröffnet wurde, hat das Nachdenken und Resümieren über das Selbstverständnis der Deutschen am Ende dieses Jahrhunderts einen Höhepunkt erreicht. Es ist eine aussagekräftige Pointe, daß sie zusammenfällt mit dem Berlin-Umzug von Regierung und Parlament. Sie setzt sich zusammen aus drei großen Einzelexpositionen im Alten Museum ("Gewalt in der Kunst"), der Neuen Nationalgalerie ("Geist und Materie") und im Museum Hamburger Bahnhof ("Collage- Montage"), die jeweils autonom sind und doch im Zusammenhang stehen. Ist es in Schinkels Alten Museum der Glaube an die gesellschaftliche Wirkungsmacht der Kunst, der in den Mittelpunkt gerückt wurde, werden in Mies von der Rohes hellem Glasbau die Metamorphosen der spirituellen Sehnsüchte der Künstler herausgearbeitet. Im Hamburger Bahnhof schließlich, der erst vor wenigen Jahren als Ausstellungsort für moderne Kunst eröffnet wurde, geht es um neuere, vom rasanten technischen Fortschritt inspirierte Kunst- und Ausdrucksformen, die vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte kreiert wurden.

Bei aller quantitativen Wucht (über 600 Werke von 200 Künstlern) enthält die Ausstellung sich jeder Geste pompösen Auftrumpfens. Sie ist, um das vorwegzunehmen, weder als Kanonisierungsversuch noch als repräsentative Selbstdarstellung der Kunst in Deutschland angelegt. Am besten tut man daran, sie als Abfolge widersprüchlicher und Widerspruch herausfordernder Meditationen, als Gesprächsangebot über Themen zu betrachten, die die deutsche Kunst und Gesellschaft in diesem Jahrhundert beschäftigten und die, wie sich an seinem Ende herausstellt, längst noch nicht erledigt sind. Die stärkste Wirkung geht von der Ausstellung "Die Gewalt der Kunst" aus. Der Titel zielt auf die Ansprüche der Kunst und der sendungsbewußten, in Nietzsches Tradition stehenden Künstler auf gesellschaftliche Wegweisung und Erziehung, die ihr Gegenstück in der kunstgläubigen Erwartungshaltung des deutschen Publikums fanden und finden.

Die Rotunde des Alten Museums als Vestibül wirkt überaus sinnfällig, weil Schinkel hier Schillers Programm einer "Ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts" den kongenialen architektonischen Ausdruck gegeben hat. Ein großer, durchgehender Bogen wird geschlagen von Albrecht Dürer, der in seinem "Ästhetischen Exkurs" die faktische Gottgleichheit des Künstlers hervorgehoben hatte, bis hin zu Joseph Beuys als Adepten von Nietzsches "Artisten-Metaphysik".

Alle heißen Debatten in Deutschland, die sich um die verspätete Nation, um romantische Weltflucht, um die Sakralität der Kunst und die mit ihr verbundenenen Überwältigungsphantasien und Erlösungshoffnungen rankten, die Diskussionen über die Unfähigkeit der Deutschen zur Politik, über die Flucht aus der Geschichte und über eine Vergangenheit, die nicht vergehen will – sie alle sind in dieser großen Kunstschau aufgehoben. Und das in einer abgeklärten Weise, die den moralischen Furor vergangener Zeiten vermissen läßt. Es hat sogar etwas Erheiterndes, Hitler auf dem Gemälde "Der Bannerführer" von Hubert Lanzinger gewissermaßen als Nachfahre von Wassili Kandinskys "Blauem Reiter" zu sehen. Deutsche Geschichte und Kunstgeschichte als Panoptikum: Allein für diese Wendung ins Ironische, für diese geniale, leider noch immer untypische Leichtigkeit, gebürt dem Ausstellungsleiter Klaus-Peter Schuster Dank und Respekt.

Die Kunst des "Dritten Reich" wird nicht einfach mehr als Widersacher der Moderne präsentiert, sondern als eine extreme Möglichkeit der Kunst in Deutschland und zugleich als Paradigma für den Sündenfall der Moderne überhaupt. Die Neigung zum Gesamtkunstwerk, das alle Sinne bezwingt, die Ästhetisierung des gesellschaftlichen Lebens, die Formierung der Massen, die Ersetzung der realen Wirklichkeit durch eine virtuelle, das war eine Tendenz, die sich gerade in der avantgardistischen Kunst – auch außerhalb Deutschlands – seit langem abzeichnete.

Die politische Situation im "Dritten Reich", im Zusammenspiel mit den neuen technischen Errungenschaften, bot die Möglichkeit, in der Luft liegende künstlerische Allmachtsphantasien im ungeheuren Maßstab umzusetzen. Leni Riefenstahls legendäre Parteitags- und Olympia-Filme entstanden in Deutschland, doch Begeisterung lösten sie auch im Ausland aus. Am Rande: Es war beim Presserundgang erheiternd zu sehen, wie sich ausgerechnet im thematischen Raum "Die Ästhetik der Macht", in dem Riefenstahl-Sequenzen über Leinwände flimmern und die Breker-Statue "Prometheus" aufgestellt ist, der erste große Stau der aufgeklärten, Benjamin- und Adorno-geschulten Journalisten bildete.

Die These vom deutschen "Sonderweg" wird nicht ausdrücklich zurückgenommen, aber doch deutlich relativiert. Neu ist dieser Ansatz nicht, aber noch nie wurde er einer so großangelegten Ausstellung zugrunde gelegt. Insofern darf man ihr schon jetzt eine Langzeit-wirkung prognostizieren. Mehr noch: Sie macht deutlich, daß die innere Gelassenheit der deutschen Gesellschaft schon viel größer, daß die geistigen und mentalen "Normalisierungsprozesse" in Deutschland viel weiter fortgeschritten sind, als man annimmt und hysterische Medienkampagnen das suggerieren.

Die Ausstellung ist weit entfernt vom plakativen Europa- oder Westliche- oder Eine-Welt-Enthusiasmus. Andererseits sind die internationalen Verknüpfungen der Kunstszene so überzeugend und notorisch, daß eine exklusiv national angelegte Kunstgeschichte ihr Thema verfehlt hätte. Deshalb zeigt die Ausstellung auch "Kunst in Deutschland" statt "Deutscher Kunst". Doch wenn sich eine nationale Kunstmetaphysik als Zentrum gesellschaftlicher Sinnstiftung und Bezugspunkt politischen Handelns auch verbietet, ein paar Denkanstöße über deutsche Spezifika in der Kunst, über feststellbare "Differenzen" zwischen der Kunst in Deutschland und in den Nachbarländern, hätte man gern erhalten.

Ausgerechnet der letzte der Katalogtexte, der sich unter der Überschrift "Das Deutsche als ästhetische Unmöglichkeit" mit dieser Frage zu beschäftigen vorgibt, erklärt "das Deutsche" einfach zu einem "imaginären Fluchtpunkt" und verengt es auf den gewaltsamen Versuch, eine falsche "Sinntotalität" herzustellen. Zum Beweis wird der Romantiker Wackenroder einfach mit Hitler kurzgeschlossen. Man fragt sich, was dieser mit alt- und neulinken Vorurteilen befrachtete Aufsatz in diesem qualitätsvollen Katalog überhaupt zu suchen hat.

Zum Schluß durchschreitet man eine von stechendem weißen Licht erfüllte, völlig leere Halle, die Gerhard Merz gestaltet hat und die den Brecht-Satz, wenn alle Irrtümer verbraucht seien, stehe man dem Nichts gegenüber, zu paraphrasieren scheint. Das ist eine radikale Absage an den Fortschritts- und Humanisierungsglauben, der im 19. und 20. Jahrhundert auch die Kunst erfüllte. Doch ein Zitat aus dem Römerbrief 13, Vers 12, verleiht der Rauminstallation so etwas wie eine Transzendenz zur Hoffnung: "Die Nacht ist fortgeschritten, der Tag nähert sich. Befreien wir uns also von den Werken der Finsternis, kehren wir zurück zu den Waffen des Lichts."

Beim Verlassen des Museums ist man direkt neugierig auf das 21. Jahrhundert.

Die Ausstellung ist bis zum 9. Januar 2000 zu sehen. Der Katalog (Nicolai Verlag, Berlin) kostet 49,80 DM. Der Bilderatlas "Das XX. Jahrhundert" (Verlag DuMont, Köln) kostet ebenfalls 49,80 DM.


 
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