© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/99 01. Oktober 1999


Demographie: Johannes Otto zu den Ursachen von Überbevölkerung und Geburtendefizit
"Kinder müssen erwünscht sein"
Karl-Peter Gerigk

Herr Dr. Otto, die Weltbevölkerung hat die Sechs-Milliardengrenze überschritten und wächst. Kann das unser Planet verkraften?

Otto: Die Weltbevölkerung wird auch in den nächsten Jahren beständig wachsen. Wir rechnen mit jährlich 80 Millionen. Das sind eine Viertel-Million pro Tag. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden um das Jahr 2050 etwa 8,9 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Wir gehen davon aus, daß die Weltbevölkerung in den nächsten Jahrzehnten alle vierzehn Jahre um eine Milliarde wächst. Somit wird es etwa 2013 sieben Milliarden Menschen geben und um etwa das Jahr 2030 acht. In den letzten Jahren ist bei der Entwicklung des Wachstums eher ein Rückgang der Intensität auszumachen. Wie unser Planet den Zuwachs verkraftet, hängt stark von der Verteilung der Ressourcen ab. Bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln ist die Preisgestaltung von Bedeutung. Wenn deren Preise auf dem Weltmarkt niedriger sind als die Produktionskosten, wird es zum Beispiel für die afrikanischen Bauern schwierig, wirtschaftlich zu produzieren; sie nutzen die Ertragsreserven nicht aus und produzieren nur für den eigenen Bedarf. Wichtig ist auch der Zugang zu den Produktionsmitteln: Ein Pächter, der einen großen Teil seiner Ernte an den Grundeigentümer abgeben muß, hat weniger Interesse an einer Ertragssteigerung als der Eigentümer an Grund und Boden. Die Industrieländer sind gefordert beim Einsatz und der Entwicklung von Technologien, die umweltschonend und ertragssteigernd sind.

Spielt nicht auch der Bildungsstand der Menschen in der Dritten Welt eine Rolle?

Otto: Ja. Ganz wichtig hierbei ist der Bildungsstand und die gesellschaftliche Rolle der Frauen. Frauen sind in vielen Ländern diejenigen, die ihre Familien versorgen, sie sind in der Regel für den Anbau der Nahrungsfrüchte zuständig, die Männer dagegen für die Verkaufsfrüchte. Die Bildung und das Wissen der Frauen sind grundlegend für die Ernährung der Familien, das heißt auch dafür, wie die Ressourcen genutzt werden. Durch bessere Bildung und Wissensvermittlung kann bei der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln eine Steigerung erzielt werden.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Armut, Bildung und den vielen Kindern in Entwicklungsländern?

Otto: Menschen in traditionellen Gesellschaften haben noch ein ausgeprägtes Bewußtsein, daß sie aufeinander angewiesen sind und daß besonders die Familie die verläßlichste Stütze in Notlagen ist. Deshalb sind Kinder als Arbeitskräfte und Altersvorsorge überlebenswichtig. Staatliche Unterstützungsnetze existieren, wenn überhaupt, nur sehr lückenhaft. Es gibt zwar auch in den Entwicklungsländern einen Trend zur Individualisierung. Vieles, was als Individualität und Freiheit verstanden und interpretiert wird, ist heute mit Kosten verbunden. Dies können sich die Menschen an der Armutsgrenze jedoch nicht leisten. Das gilt aber auch für unsere industrielle Gesellschaft. Auch wir können uns mit Blick auf unsere Altersversorgung ein vom Gemeinwesen isoliertes Leben nicht leisten und uns nur den Genüssen hingeben. Es gibt sicherlich einen Unterschied zwischen der traditionellen Gesellschaft, die Kinderreichtum auch als eine Altersvorsorge gesehen hat, und der modernen Gesellschaft, die meint auf Kinder verzichten zu können, weil man sich mit Geld alles kaufen zu können glaubt. Aber Altersversorgung, sowohl im materiellen Sinne wie auch im sehr wichtigen mentalen Sinne kann man nicht mit Geld kaufen, wenn nicht genügend Nachwuchs vorhanden ist.

Warum gibt es denn in armen Ländern so viele Kinder?

Otto: Kinder bedeuten in diesen Länder einen wichtigen ökonomischen Wert. Sie sind Mitversorger der Familie. Kinder tragen, wenn sie arbeiten, mehr zum Einkommen der Familien bei, als sie selber kosten. Das gab es bei uns früher auch, daß die Kinder im Haushalt halfen, auf den Bauernhöfen mitarbeiteten und in Gaststätten bedienten. Dies ist in Drittweltländern heute noch vielfach der Fall.

Ist dies heute in Deutschland denn wesentlich anders?

Otto: Früher, in meiner Jugend, hießen Schulferien Ernteferien oder Kartoffelferien, weil die Kinder auf dem Land mit anpacken mußten. Aber es hat sich nicht nur die ländliche Struktur geändert. Kinder sind heute bei uns ökonomisch ein Kostenfaktor und ein Umstand, der die Individualitat einschränkt. In den Entwicklungsländern handeln die Menschen dagegen ökono-misch, wenn sie viele Kinder bekommen. Aber wesentlich ist auch das Bewußtsein der Menschen in diesen Ländern. Man möchte auch das Überleben sichern von Familie, Sippe und Stamm. Auch das gab es bei uns. Viele Höfe und Gaststätten waren über Hunderte von Jahren in Familienbesitz. Dies wurde mit einem gewissen Stolz und Selbstbewußtsein gezeigt und ist Ausdruck der Identität.

Welche Möglichkeiten der Regelungen gibt es für Drittweltländer, um zu viele Geburten zu vermeiden?

Otto: Das ist ein weites Feld. Traditionelle Gesellschaftsstrukturen sind noch vielfach bestimmend. Oft haben Frauen kein Wort darüber mitzureden, wieviele Kinder sie gebären sollen. Für viele Männer sind Kinder auch Ausdruck von Potenz. Es gibt zwar einerseits zu verurteilende Zwangsabtreibungen durch staatliche Stellen, andererseits werden Frauen aber auch gezwungen, Kinder auszutragen, die sie gar nicht wollen, oder Frauen werden schwanger und bekommen Kinder aufgrund fehlender medizinischer Kenntnisse und Bildung. Aufklärung tut hier not.

Halten Sie die chinesische Methode der Sanktionen nach dem zweiten und dritten Kind für eine Möglichkeit?

Otto: Eine Regierung hat sicherlich die Pflicht, sich Gedanken über die weitere Entwicklung zu machen, wenn sich ihre Bevölkerung nach den Geburtenzahlen innerhalb von 25 Jahren verdoppelt. Aber das Beispiel China wäre auch nicht übertragbar. Die Durchsetzbarkeit solch rigider Maßnahmen ist in Drittweltländern überhaupt nicht gegeben. In China gibt es seit Jahrhunderten eine relativ effektive Verwaltung. Der Staat hat dort unmittelbaren Zugriff auf jeden Einzelnen, bis ins letzte Dorf. Dies trifft für die meisten Entwicklungsländer nicht zu.

Die gesellschaftliche Situation in Deutschland ist ganz anders. Warum gibt es bei uns so wenig Kinder?

Otto: Der Geburtenrückgang in Deutschland hat ein Bündel von Ursachen. Eine Erklärung ist die These von der "Konkurrenz der Genüsse". Es ist zum Beispiel schwierig, ins Kino zu gehen oder in Urlaub zu fahren, wenn man Kinder hat. Es stellt sich hier die Frage, was den Menschen wichtiger ist: Kind oder Karriere. Dies läßt sich unter dem Begriff "Individualisierung" subsumieren. Es liegt auch an den langen Ausbildungszeiten gerade bei Frauen, so daß das Heiratsalter deutlich gestiegen ist. Aber auch die Betreuungsangebote für Kinder sind unzureichend. Grund für den Geburtenrückgang sind im übrigen nicht die oft zitierten Einkindfamilien, sondern die Paare, welche ganz auf Kinder verzichten, weil sie es sich vermeintlich nicht leisten können. Dies hängt damit zusammen, daß diese Paare auf erworbenen Lebensstandard nicht verzichten wollen. Ein Kind würde einen Verlust an Bequemlichkeit und an verfügbarem Einkommen bedeuten.

Was kann der deutsche Staat tun, um die Zahl der Geburten zu steigern?

Otto: Wesentlich ist die Schaffung von Rahmenbedingungen, um die Kinderwünsche, die vielfach da sind, zu ermöglichen. Wichtig ist dabei die Kinderbetreuung, aber auch eine wenigstens teilweise Kompensation von Kosten, die Kinder verursachen. Es ist ja heute so, daß Familien unterm Strich schlechter gestellt sind als doppelt verdienende kinderlose Paare. Wir brauchen aber auch ein gesellschaftliches Klima, in dem Kinder erwünscht, wertvoll und nicht nur geduldet sind. Der Staat könnte hier in Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Gruppen Public-Relations-Maßnahmen initiieren, die zu einem solchen Bewußtsein beitragen. Teil dessen muß die Vermittlung sein, daß Kinder einen gesellschaftlichen Wert bedeuten, nicht nur im Hinblick auf eine Altersversorgung. Eine Überalterung der Gesellschaft stört das Wirtschafts- und Gesellschaftsgefüge.

Ist Zuwanderung nach Deutschland wirklich eine Möglichkeit, die Geburtenrate und demographische Situation zu verändern?

Otto: Die Zuwanderung kann einen gewissen Ausgleich schaffen. Wenn man sich die Alterspyramide von Deutschland ansieht, dann weist sie einen dicken "Bauch" in den Altersgruppen der 20- bis 30jährigen auf. Das ist aber auch das Alter der typischen Einwanderungsgruppen. Wenn wir aber durch Zuwanderung den Altersaufbau unserer Gesellschaft ändern wollten, dann müßten wir Babys importieren, denn in diesem Altersspektrum gibt es ein Defizit.

 

Dr. Johannes Otto ist seit 1997 Vorsitzender der Deutschen Ge-sellschaft für Bevölkerungsstatistik in Wiesbaden. Er studierte Landwirtschaft an der Universität zu Bonn und promovierte dort 1962. Später leitete er Entwicklungprojekte für die Dritte Welt bei der Bundesstelle für Entwicklungshilfe (BfE) in Frankfurt/Main.


 
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