© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/99 01. Oktober 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Balanceakte
Karl Heinzen

Die Kommunalwahl in Bremerhaven und die Stichwahlen in Nordrhein-Westfalen scheinen der Bundesregierung eine unerwartete Atempause beschert zu haben. Bis die Bürger Berlins über die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses entscheiden, könnte Gerhard Schröder nun also an eine Fortsetzung seiner Reformpolitik denken – ohne die panische Furcht, für diese postwendend und automatisch von den Menschen abgestraft zu werden. Ist dem Kanzler aber so viel unverbrauchte Naivität überhaupt noch zuzumuten? Nach den Erfahrungen, die er seit seinem Amtsantritt mit den Wählern machen mußte, könnte ihm niemand ein eher berechnendes Verhalten übelnehmen. Während nämlich die Regierung auf das Gemeinwohl verpflichtet ist, haben die Bürger das Recht, egoistische Interessen zu verfolgen. Stehen politische Probleme zur Entscheidung an, favorisieren sie Lösungen, die ihren eigenen und sonst keinen Nutzen mehren. Ausgerechnet zu solchen Lösungen dürfen sich jedoch diejenigen, die sie immerhin wählen, nicht durchringen. Für wen die Bürger somit auch votieren, nie wird er so entscheiden dürfen, wie sie es eigentlich gerne sähen.

Dennoch gibt es wenig Staatsverdrossenheit und allenfalls ein leichtes Nachlassen der Wahlbeteiligung, das aber vor allem darauf zurückzuführen sein dürfte, daß der Erlebnischarakter von Wahlen zu lange schon außer acht gelassen wird. Die breite Zustimmung zu unserem Gemeinwesen ist verläßlich, weil sie auf einem realistischen Verständnis von Politik basiert, das eine Regierung nicht gestaltend tätig, sondern wirksam gehegt wissen möchte. Gerade in einer Demokratie gilt es, Politiker zu bremsen, die durch einen vermeintlichen Wählerauftrag übermotiviert zu sein drohen.

Niemand kann heutzutage zuverlässig beurteilen, ob unsere Republik irgendwelche Reformen braucht, welche das sein sollen und zu welchen Ergebnissen sie überhaupt führen können. Was die Menschen wissen, ist aber, wie sie die Politiker davon abhalten können, sich selbst beim Wort zu nehmen, bloß weil es den Anschein enes Kompetenzvorsprunges zu wahren gilt. Zu diesem Zweck setzen sie immer dann Gegengewichte, wenn die Balance gefährdet ist. Triumphiert die SPD im Bund, muß sie in den Ländern bluten. Drängen die Parteien auf einen Konsens in der Mitte, werden die Ränder gestärkt. Ist das Kommunalparlament fest in einer Hand, steigen die Chancen der anderen auf das Bürgermeisteramt.

Die beste Politik ist die, die nicht stattfindet: Dies ist heute sogar ganz ohne Diktatur evident. Die Herzen der Menschen erreicht nur, wer ihnen das Gefühl vermittelt, gediegen repräsentiert zu werden. Reformen und Programme sind hier deplaziert und nur der Ausweis eines Mangels an Lebensart. Gerhard Schröder wird sich nur dann behaupten können, wenn er zu dieser Erkenntnis, die am Anfang seiner Erfolgsgeschichte stand, zurückfindet.


 
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