© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/99 24. September 1999


Vor 60 Jahren: Warschau kapituliert, der "Marsch auf Berlin" fiel aus
Polens Illusionen 1939
Kai Guleikoff

Am 27. September 1939 nimmt der deutsche Generaloberst Blaskowitz die Kapitulation Warschaus durch den polnischen General Rommel entgegen. Als die Wehrmacht am 1. Oktober in die noch an einzelnen Stellen brennende Hauptstadt einmarschiert, kapitulieren die polnischen Marinesoldaten auf der hartnäckig verteidigten Halbinsel Hela mit ihrem Befehlshaber, Konteradmiral Unrug. Die letzten Polen stellen am 6. Oktober 1939 bei Kock und Lublin das Feuer ein, als ihr Kommandeur Generalmajor Kleeberg weiteren Widerstand nicht mehr verantworten will. Die Namen dieser ranghohen Offiziere verweisen auf deutsche Vorfahren. Deutschstämmige kämpften seit Jahrhunderten für Polen und trugen dazu bei, die bis heute bestehende hohe Wertschätzung des polnischen Militärs zu begründen.

Der "Krieg der 18 Tage", wie er von deutscher Seite propagandistisch überhöht genannt wurde, war kein "Spaziergang nach Warschau". Die deutschen Verluste betrugen 10.572 Tote, 3.404 Vermißte und 30.322 Verwundete. Das Heer verlor 217 Panzer, die Luftwaffe 282 Flugzeuge. Die polnischen Verluste sind bis heute nicht genau feststellbar. Ein großer Teil polnischer Soldaten trug keine Erkennungsmarken, und beim unkoordinierten Rückzug der Armeen und Operationsgruppen sind die Verluste mangelhaft erfaßt worden. Geschätzt werden etwa 200.000 Mann, 25 Prozent der Kampfbeteiligten. Unter den etwa 66.000 polnischen Gefallenen waren mindestens 5.000 von deutscher Herkunft. Die geringsten Verluste hatte die Rote Armee, die mit der Weißrussischen und Ukrainischen Front am 17. September begann, ihre durch Polen aufgezwungene Westgrenze von 1921 zu korrigieren. Bis zum 22. September 1939, der Kapitulation der polnischen Truppen in Lemberg unter General Langner, verloren sie 737 Mann an Toten und 1.859 Verwundete.

Pilsudski wollte Polen als europäische Großmacht

Der hinhaltende Widerstand der polnischen Armeen ermöglichte etwa 120.000 Soldaten den Rückzug über die ungarische und rumänische Grenze zu den Engländern. Einem Teil der U-Boote gelang es, bis zu den britischen Häfen durchzukommen, etwa 100 Flugzeuge landeten in Rumänien.

In Gefangenschaft nach Deutschland mußten 694.000 Mann, in die Sowjetunion wurden 217.000 verbracht. Das Erbe des Marschall Pilsudski, die elegante und in halbfeudalen Traditionen befangene polnische Wehr, war leichtfertig verspielt worden. Polens Glaube an seine Wichtigkeit als Bollwerk gegen den Bolschewismus ließ ein blindes Vertrauen zu seinen Garantiemächten Großbritannien und Frankreich entstehen. Polen hatte nach dem Ersten Weltkrieg die Absicht, Deutschlands Rolle als Mittelmacht Europas zu übernehmen. Pilsudski strebte ein Großpolen mit der Vereinnahmung der Ukraine, Weißrußland und Litauens an. Sein Angriff auf das bürgerkriegsgeschüttelte Sowjetrußland am 24. April 1920 führte zur Ostverschiebung der polnischen Grenze um 300 Kilometer und dem Zuwachs von vier Millionen Einwohnern für Polen.

Der Friedensvertrag von Riga am 18. März 1921 erhöht die Rolle des Marschall Pilsudski im europäischen Konzert. Der "ungekrönte König" erinnert seine Landsleute auch daran, daß im Jahre 967 die Odermündung mit Stettin zu Polen gehörte und zwischen 992 und 1025 die Lausitz und die Mark Meißen unter polnische Herrschaft kamen. An allen Gemeinheiten der alliierten Sieger gegenüber dem ausgepreßten Deutschland in den zwanziger Jahren beteiligten sich die großpolnischen Chauvinisten mit besonderem Eifer. Um die Klammer Frankreich-Polen um Deutschland zu lockern, schloß Hitler mit Pilsudski am 26. Januar 1934 ein Verständigungsabkommen mit Gewaltverzichtserklärung bis 1944. Am 14. Juni 1934 erhielt Goebbels eine Audienz bei Pilsudski. Göring gewann durch seine Jagdleidenschaft die Sympathie der ebenso verschwenderisch lebenden polnischen Amtsträger. Aus der Sicht der Westmächte zeichnete sich eine Achse Berlin-Warschau ab, die gegen Moskau gerichtet sein würde. Polen wurde unter seinem Kriegsminister Marschall Pilsudski stark militarisiert. Eine eigene Rüstungsindustrie lieferte Verbesserungen französischer, britischer und italienischer Lizenzbauten.

Warschau überschätzte die Schlagkraft seiner Armeen

Den Kern des Heeres bildeten die legendären Ulanen, die zwar Lanze und Säbel weiter führten, doch auch reichlich mit leichten Maschinengewehren, Granatwerfern, Anti-Tank-Gewehren und bespannter Begleitartillerie ausgerüstet wurden. 1937 ist die 10. Kavalleriebrigade in die 1. Panzermotorbrigade umstrukturiert worden. Alle anderen elf Kavalleriebrigaden erhielten zusätzlich zwei Kompanien leichte Begleitpanzer. Die 842 Flugzeuge waren dem Kommando der Armeebefehlshaber unterstellt.

Diese Struktur sollte eine starke Stoßkraft erzeugen, um den Gegner in der Hauptangriffsrichtung schnell und verlustarm zu überwinden. Die Kavalleristen waren so ausgebildet worden, daß sie den regulären Fußtruppen infanteristische Unterstützung geben konnten. Der deutsche Generalstab sah die Polen, wie auch die Tschechen, militärisch als "harte Nüsse" an. Nach dem Tod Pilsudskis am 12. Mai 1935 übernahm eine Obristenjunta die Staatsgeschäfte. Marschall Rydz-Smigly und Oberst Beck wurden nunmehr die Verhandlungspartner der Deutschen. Hitler brauchte ihre politische Intervention nicht zu fürchten bei seiner "Korrektur des Versailler Vertragswerkes".

Am 1. Oktober 1938 rücken deutsche und polnische Truppen gemeinsam in die Tschechoslowakische Republik ein. Einen Tag später begann die polnische Besetzung des Olsagebietes und seine Anschließung an die Woiwodschaft Schlesien. Diesen 810 Quadratkilometern Landnahme mit den Städten Oderberg, Karwin und Tschechisch-Teschen folgten 220 Quadratkilometer slowakischen Territoriums mit 69 Quadratkilometern Geländes südlich des strategisch wichtigen Jablunkapasses.

Diese "Gemeinsamkeit" ermutigte Hitler zusätzlich, den Polen die Lösung der Danziger Frage auf den Verhandlungstisch zu legen. Bei einem Besuch des polnischen Außenministers, Oberst Beck, auf dem Obersalzberg am 5. Januar 1939, rief er aus: "Danzig war deutsch, wird immer deutsch bleiben und früher oder später wieder zu Deutschland gehören!" Versöhnlicher sollte dann der Nachsatz klingen: "Allerdings gebe ich Ihnen die Versicherung, daß ich in Danzig keine vollendeten Tatsachen schaffen werde."

Die offizielle Antwort Becks am 28. März 1939 an Hitler war jedoch scharf formuliert: "Jeder Versuch Deutschlands oder des nationalsozialistischen Senats, den Status des Freistaates zu ändern, wird Polen als Kriegsgrund betrachten!" Die Führung des polnischen Militärstaates wußte von der Furcht der konservativen deutschen Generalstäbler vor einem Zweifrontenkrieg mit Frankreich und Großbritannen im Westen sowie Polen im Osten. Vermutlich war auch die interne deutsche Selbsteinschätzung bekannt, vor dem Jahr 1942 nicht kriegsfähig zu sein. Die vorhandene Militäropposition gegen Hitler hatte über ihre Abwehr den Alliierten mitgeteilt, einem Angriffsbefehl Hitlers mit dessen Verhaftung zu beantworten. Diese Aktion sollte bereits vor der Besetzung der Tschechoslowakei erfolgen, wurde jedoch durch den Kompromiß des Münchener Abkommens ausgesetzt.

Im exklusiven Offizierskasino der 6. Ulanen in Posen (seit 1920 polnisch) wurde bei französischem Champagner über die bevorstehende Besetzung Berlins schwadroniert. In anderen wurde von Beförderungen, Ordensverleihungen und rauschenden Festen im Schloß zu Königsberg geträumt. Hitler geriet in Handlungszwang: Wenn er die Landbrücke zwischen Pommern und Ostpreußen nicht wieder herstellen konnte, wäre er politisch schwer angeschlagen. Beide Seiten mobilisierten "ohne öffentliche Ankündigung" ihre Reservisten. Teile der deutschen Bevölkerung verließen die seit 1920 polnisch gewordenen Landesteile. Großbritanien und Frankreich hatten keine wesentlichen Einwände gegen die Rückgabe Danzigs an Deutschland, fanden jedoch keine Lösung zur Ruhigstellung Polens.

Hitler umwarb Warschau mit der Absicht einer international kontrollierten Volksabstimmung über den Korridor. Den Kriegshafen Gdingen sollte Polen behalten. Doch die polnische Führung sah das deutsche Reich in einer außenpolitisch und militärisch unterlegenen Position.

Falsche Einschätzung der politischen Interessenlagen

Mit der Sowjetunion bestand ein Nichtangriffspakt, mit Großbritannien und Frankreich ein Beistandspakt und mit Italien ein geheimes Stillhalteabkommen. Der polnische Auslandsgeheimdienst meldete einen unmittelbar bevorstehenden Militärputsch in Berlin ("Es verdichten sich Hinweise aus zuverlässigen Quellen unserer Verbündeten"). Die Eröffnung der Kampfhandlungen am 1. September 1939 wurde anfänglich von beiden Seiten heruntergespielt. Der Reichspressechef gab die Tagesparole heraus: "Der Begriff Krieg ist in Berichten und Überschriften auf jeden Fall zu vermeiden." Die polnische Nachrichtenagentur PAT meldete: "Die Kämpfe zwischen polnischen und deutschen Truppen beschränken sich auf die Grenzgebiete."


 
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