© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/99 17. September 1999


Wahlen: Schröder verspielt die Chance zu fundamentalen Veränderungen
Der gehemmte Kanzler
Dieter Stein

Was haben Helmut Kohl und Gerhard Schröder gemeinsam? Beide versagen angesichts einer großen Aufgabe. Helmut Kohl versäumte es, die Wiedervereinigung 1990 zum Großreinemachen in ganz Deutschland zu nutzen. Aus einer revolutionären Situation, der faktischen Auflösung eines alten Systems, der Ausdehnung der Bundesrepublik auf das Gebiet der DDR durch den Beitritt der mitteldeutschen Länder hätte Kraft gewonnen werden können, das marode westdeutsche System – Verwaltung, soziale Sicherung, Steuerpolitik – zu reformieren, zu revolutionieren.

Oskar Lafontaine hatte damals in einem Punkt recht, als er auf die finanzielle Herausforderung im Zuge der Wiedervereinigung hinwies. Nicht als Warner, sondern als antinationaler Quertreiber gegen die Wiedervereinigung wurde er zu Recht von den Wählern mit Pauken und Trompeten in die Wüste geschickt. Kohl hat die Chance verpennt, die riesengroße Bereitschaft der Deutschen zu drastischen Einschnitten zu nutzen. In der Stunde der Freude über die Einheit, des Zusammenrückens und der überdeutlichen Herausforderungen für die Gemeinschaft war allen klar, daß es nun ans Eingemachte, an liebgewonnene Besitzstände ging.

Statt dessen streute die Kohl-Regierung 1990 den Wählern Sand in die Augen und machte den Bürgern weis, die Wiedervereinigung gäbe es zum Nulltarif, notwendige Mehrausgaben kämen über höheres Wachstum und Verkäufe "volkseigenen Eigentums" wieder herein. Deshalb erschlich sich Kohl auch den Anspruch des Bundes an durch die Ostzone enteignetes Vermögen von 1945–49. Kohl glaubte durch Veräußerung dieser Hehlerware Transferleistungen kompensieren zu können. Pustekuchen. Die Verwaltung über die Treuhand hat unterm Strich inzwischen mehr gekostet, die Verschuldung des Bundes ist im Zuge von Kohls Regentschaft, überwiegend seit der Wiedervereinigung von 300 Milliarden 1982 auf heute 1,5 Billionen Mark angewachsen. Unter anderem deshalb wurde Kohl 1998 abgewählt. Die Bürger hofften sich Bewegung statt Stillstand vom neuen Kanzler.

Schröder hatte im Herbst 1998 eine günstige Stunde. Nicht so günstig wie Kohl 1990, aber doch eine Stunde, in der die Menschen auf Veränderungen und Einschnitte gefaßt waren. Doch die Chance scheint schon wieder verspielt worden zu sein. Statt Signale für den Umbau, das gemeinsame Gürtel-enger-Schnallen zu setzen, provoziert die Schröder-Crew mit ihrem Posieren für Mode-Magazine die klassische sozialdemokratische Klientel. Die ästhetische Botschaft lautet: Wir prassen weiter, sparen soll der Pöbel.

Worüber streitet sich die Politik in Deutschland eigentlich? Über ein Sparpaket, das die Neuverschuldung um 30 Milliarden Mark verringern soll. 30 Milliarden! Angesichts einer Staatsverschuldung von 1,5 Billionen bräuchten wir eigentlich ein Sparpaket von 300 Milliarden! Mit der Machete müßten die aufgeblähten Haushalte, die bewegungsunfähige, veraltete Verwaltung zusammengehauen werden. 30 Milliarden Mark sind lächerlich und dürften kein Thema sein.

Die SPD wird abgestraft, weil Schröder es versäumt, die Menschen für eine Politik der Reformen, des Wandels einzunehmen. Was fehlt, ist der Appell an das Kollektiv zur gemeinsamen Kraftanstrengung. Wo ist der Geist, daß hier eine Nation vor großen Aufgaben steht? Man zitiert häufig eine Devise Schröders, "Erst das Land, dann die Partei". Mag sein, daß er so denkt. Zu spüren ist davon nichts. Die SPD taumelt zwischen Klientel- und Interessenpolitik einerseits und dem halbherzigen Aufbruch zu einer Umgestaltung des Staates andererseits, der sich vieler Aufgaben entledigen könnte, die mittlerweile privat effizienter, besser, menschlicher und billiger zu organisieren sind.

Kurz: Wie Kohl glaubt auch Schröder, unmündige Bürger vor sich zu haben, die der Bevormundung und Betreuung des Staates vom Säuglings- bis zum Greisenalter bedürfen. Also bindet man die Deutschen nicht in die große Aufgabe ein, sondern versucht die bittere Wahrheit über den völlig bankrotten Staat in homöopathischen Dosen zu verabreichen. Die Wähler wissen es besser und verübeln es dem Kanzler, daß hier nicht klarer Führung gezeigt wird.

Die Union sollte sich warm anziehen. Sie profitiert derzeit nur dank extrem niedriger Wahlbeteiligung von der Schwäche der SPD. Diese parasitären Erfolge sind nicht von Dauer, wenn Schröder noch einmal durchstartet.


 
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