© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/99 10. September 1999


Wozu Streitkräfte?
von Klaus Hammel

Noch ehe die Abeit der Kommission "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr" richtig begonnen hat – Minister Scharping erwartet von ihr Lösungsansätze ab dem Zeitraum etwa 2003 bis 2005 –, überrollt das Sparprogramm der Bundesregierung sämtliche Planungen und zwingt zum Handeln, ohne endlich einmal angemessene Vorgaben und Rahmenbedingungen festgelegt zu haben, bevor über den Umfang der Streitkräfte, die Anzahl von Divisionen oder die Wehrpflicht gesprochen wird.

So bleibt das, was nun auf der Hardthöhe festgelegt wurde, Stückwerk. Dies ist auch eine Folge der jahrelangen Verschleppung von Entscheidungen durch die CDU/CSU/FDP-Regierung, falscher politischer Vorgaben, beziehungweise des Weckens von übertriebenen Erwartungen auf die "Friedensdividende" und großspuriger Ankündigungen des damaligen Verteidigungsministers Rühe. So wird wie in einem Gemischtwarenladen gespart: Da wird der Umfang der Wehrpflichtigen erneut um 8.000 Mann gesenkt, hierdurch verringert sich der Umfang der Bundeswehr auf 321.000 Mann; eine Abweichung von 19.000 Mann (dies ist der Personalumfang einer Division!) vom Soll von 340.000 Mann mit der Fiktion, die gegenwärtige Struktur (noch) beibehalten zu können. Dort werden ein paar tausend Reservisten weniger einberufen, auch tausend Stellen für Zivilpersonal werden eingespart. Im Etatposten des "sonstigen Betriebes" wird gekürzt, besonders schwerwiegend ist die Kürzung der Investitionen um 750 Millionen Mark, damit wird die Beschaffung eines vor allem für das Heer benötigten Transporthubschraubers als Ersatz für veraltetes Gerät wieder einmal hinausgeschoben. Vor allem ist – wie in der Vergangenheit – das Heer von den Einsparungen betroffen. Hinter all dem steckt, wie gesagt, kein Konzept. Im Verteidigungshaushalt sei nun keine Luft mehr, so Scharping, und dies nachdem er schon in der Opposition verkündet hatte, die Bundeswehr sei chronisch unterfinanziert.

Das eigentliche Problem ist jedoch nicht der gegenwärtige Haushalt sondern die Jahre bis 2003, in denen 18,6 Milliarden eingespart werden sollen. Noch dazu, wo das Aufgabenspektrum der Nato der Bundeswehr künftig mehr Leistungen abverlangt, nicht weniger.

Deutschland brachte 1998 nur noch 1,53 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Verteidigungsausgaben auf, der Durchschnitt der 16 Bündnisstaaten liegt bei 2,29 Prozent. Geringere Ausgaben als die Deutschen haben nur noch kleinere Bündnispartner wie Belgien, Spanien, Kanada und Luxemburg. Mit den Kürzungen des Verteidigungshaushalts 2000 um 3,5 Milliarden Mark beträgt sein Anteil nur noch ca. 9 Prozent des Gesamthaushalts; 1990, also kurz nach Zusammenbruch des Warschauer Pakts, lag der Anteil noch bei 17,3 Prozent.

Die Festlegung, wieviel Streitkräfte ein Staat wie Deutschland benötigt, sollte sich zunächst aus der Antwort auf die Frage "Wozu Streitkräfte?" ergeben. Dabei gibt die jeweils konkrete Bedrohung, neuerdings sagt man "Risiken", nur einen unvollkommenen Anhalt. Internationale Entwicklungen sind nur eingeschränkt im Rahmen verläßlicher Prognosen vorherzusehen. Infolgedessen muß das Streitkräftedispositiv eines Staates auch einen Vorhalt für den schlechtesten Fall umfassen. Den Monarchen der absolutistischen Staaten war bewußt, daß die kriegerische Verwendung der Armeen nur die ultima ratio regis war, das heißt, der Wert von Streitkräften beruhte auf ihrer Existenz, als einem Mittel unter anderen, um Machtpolitik zu betreiben. Dies ist auch heute noch so, Streitkräfte sind neben Wirtschaftskraft, Bevölkerungsumfang, Rohstoffen oder geostrategischer Lage ein Mittel der power projection, wie man heute sagt – das bedeutet das Deutlichmachen eigener Machtpotentiale zum Durchsetzen politischer Ziele, vor allem aber auch zur Wahrnehmung dieses Machtpotentials.

Wenn dies so ist, dann werden der Umfang, die Struktur und die Fähigkeiten deutscher Streitkräfte durch die Rolle bestimmt, die unser Staat im internationalen Konzert spielen möchte und durch sein inneres Selbstverständnis.

Deutschland ist nach der Russischen Republik der bevölkerungsreichste Staat Europas, es ist die stärkste Wirtschaftsmacht Europas, allerdings hinsichtlich der Rohstoffquellen von anderen Ländern in der Welt und damit von gesicherten Verbindungslinien abhängig. Der Zusammenbruch des Sowjet-Blocks hat dazu geführt, daß Deutschland nicht mehr Frontstaat ist, allerdings auch kein westeuropäischer Randstaat. Durch die Erweiterung von Nato und Europäischer Union tritt eine Gewichtsverlagerung in der Bedeutung der Staaten vom bisherigen Schwerpunkt "Süd-West" nach "Nord-Ost" ein, damit wird die jahrhundertelange Mittellage Deutschlands mit einer Brückenfunktion nach Osten wieder deutlich. Unsere mittel- und osteuropäischen Nachbarn lehnen sich in ihren politischen und wirtschaftlichen Zukunftserwartungen an uns an.

An die Stelle eines jahrzehntelangen "Empfängers von Bündnissolidarität" ist die Verpflichtung des "Spenders von Bündnissolidarität" getreten.

Wenden wir uns einer groben Risikoabschätzung zu: Durch den Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums und die Demokratisierung der Staaten Osteuropas ist eine unmittelbare Bedrohung Deutschlands nicht gegeben. Die innere Lage in Rußland ist aber alles andere als stabil, die künftige Entwicklung äußerst unsicher. Bei einem möglichen Kriegsschauplatz Mitteleuropa würde Deutschland in der Verbindungszone liegen, vergleichbar der Lage Frankreichs während des Kalten Krieges. Eine Bedrohung könnte sich durch weitreichende Waffensysteme, feindliche Spezialtruppen und innere Unruhen ergeben.

An der Südflanke des Bündnisses erstreckt sich eine Zone möglicher, zum Teil sehr konkreter Konfliktbereiche, die von Nordafrika über den Nahen Osten bis in den Indischen Ozean reicht. Dazu kommt der Konfliktherd Kaukasus. Hieraus ergeben sich mögliche Bedrohungen in erster Linie in den Südbereich der Nato hinein.

Die internationale Verflechtung im Bereich der Kommunikations- und Verkehrstechnik führt dazu, daß sich Konflikte schwerer räumlich begrenzen lassen, ein "Überschwappen" auf Europa ist immer möglich. Dazu kommen die Folgen weltweiter Migrationsbewegungen sowie kampf- und risikobereite fundamentale Religionsgemeinschaften wie der Islam, der seine politische Stoßrichtung nur noch nicht gefunden hat.

Die UN hat ihre Handlungsunfähigkeit im Kosovo-Krieg erneut bewiesen, die politische Stabilität des Nato-Bündnisses ist alles andere als gewährleistet, bei einem längeren Durchhalten Milosevics beispielsweise drohte ein Bruch der Allianz.

Aus dem zuvor gesagten ist zu folgern, daß Deutschland auch in der Lage sein sollte, nationale Optionen wahrzunehmen, gegebenenfalls mit je nach Lage wechselnden Bündnispartnern. Kann dies realistischerweise erwartet werden, obwohl wir Deutschen auf Grund unserer Vergangenheit immer wieder Hemmungen bewiesen haben, Führungsrollen zu übernehmen und Interessenpolitik zu betreiben?

Welche Forderungen ergeben sich nun im Hinblick auf die künftige Aufgabenstellung der Bundeswehr? Auf der Grundlage der im April 1999 verabschiedeten neuen Nato-Strategie haben die Streitkräfte des Bündnisses nunmehr auch die Aufgabe der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung schon im Vorfeld des Nato-Vertragsgebietes. Deutschem Einfluß ist es zu verdanken, daß diese Einsatzoption räumlich begrenzt wurde und nicht weltweit ausgedehnt, wie es die Amerikaner wünschten. Unverändert steht die Landes- und Bündnisverteidigung im Mittelpunkt der Verteidigungsanstrengungen, dazu kommen, wie bisher, humanitäre Aufgaben und Hilfseinsätze.

Diese Aufgaben verlangen von der Bundeswehr – vereinfacht dargestellt – folgendes:

l Ein Lage- und Informationssystem einschließlich entsprechender Aufklärungsmittel, gemeinsam mit den europäischen Bündnispartnern, um krisenhafte Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen.

l Transportkapazitäten zu Lande, über die See und durch die Luft, um Truppen in die Einsatzregionen zu verbringen.

l Der Einsatz "leichterer" Kampftruppen mit logistischer und sanitätsdienstlicher Unabhängigkeit im Einsatzraum sowie ihre Unterstützung aus dem Heimatland heraus. Diese Truppen müssen über eine angemessene Durchhaltefähigkeit (Ablösung) auch bei länger andauerndem Einsatz verfügen.

l Die Bereitstellung "schwererer" (auch gepanzerter) Truppen zur Bündnisverteidigung außerhalb Deutschlands mit ähnlichen Fähigkeiten wie eben genannt. Hier ist eine Klammer zur Landesverteidigung gegeben, da künftig eine notwendige Verteidigung Deutschlands nicht erst an seinen Grenzen, sondern auf dem Territorium unserer Bündnispartner beginnen sollte.

l Zur Landes- und Bündnisverteidigung ist für Deutschland als zentrale mitteleuropäische Macht eine bestimmte Aufwuchsfähigkeit, also die Mobilmachung nicht-präsenter oder teil-präsenter Truppen unverzichtbar.

l Eine Führungsfähigkeit einschließlich moderner technischer Führungsmittel, auch mit der Möglichkeit, nationale Optionen wahrzunehmen.

Bisher war die Bundeswehr darauf ausgerichtet – wiederum vereinfacht ausgedrückt –, unter Abstützung auf die Ressourcen des deutschen Staatsgebietes, insbesondere in den Bereichen Logistik, Sanitätsdienst, Kommunikations- und Verkehrsinfrastruktur, einem groß angelegten Panzerangriff des Warschauer Pakts zu begegnen.

Die beschriebenen Fähigkeiten verlangen nun eine weitgehende Umstrukturierung der Bundeswehr. Eine solche Umstrukturierung kostet zunächst mehr Geld, bevor – gegebenenfalls auch durch eine Umfangsreduzierung – Einspareffekte auftreten. Mit der Einführung neuer Waffensysteme wie Eurofighter, Satellitenaufklärung, ein Transportflugzeug zum strategischen Lufttransport, Transport- bzw. Kampfhubschrauber oder ein System leichter gepanzerter Fahrzeuge ist es aber nicht getan.

Wenn die Landesverteidigung in der Durchführung mit der Bündnisverteidigung zusammenfällt, ist auch die Trennung zwischen Hauptverteidigungskräften und Krisenreaktionskräften hinsichtlich der gegenwärtigen Ausstattungsprioritäten unzweckmäßig. Bei selbstverständlich zu akzeptierenden Begrenzungen im Haushalt unterscheiden sich die Truppen dann nur nach ihrem Verwendungszweck und den Forderungen nach zeitlicher Verfügbarkeit, dies bedeutet nach ihrem Präsenzgrad. Aufwuchsfähigkeit bedeutet aber auch die Ausstattung nicht-präsenter oder teil-präsenter Truppenteile mit aktiven Kadern, eine ausreichende materielle Ausstattung sowie Wiederholungsübungen, um einen angemessenen Ausbildungsstand zu erhalten. Beim gegenwärtigen System steht die Aufwuchsfähigkeit hinsichtlich der genannten Kriterien nur auf dem Papier.

Krisenbewältigung, Bündnissolidarität, Beginn der Landesverteidigung vor den Grenzen unseres Staates sind ethisch gerechtfertigte Aufgaben ebenso, wie dies bisher für die unmittelbare Landesverteidigung galt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sie vom Willen unseres Volkes getragen werden. Daher empfiehlt sich die Aufhebung der ideellen Trennung zwischen Freiwilligen für die Krisenreaktionskräfte und Wehrpflichtigen für die Landesverteidigung. Meßlatte kann nur sein, ob Wehrpflichtige einen adäquaten Ausbildungsstand aufweisen.

Hier soll die Frage Berufsarmee oder Wehrpflichtarmee nur gestreift werden. Für eine Berufsarmee im Umfang von 210.000 Mann hat Großbritannien 1998 rund 67 Milliarden Mark aufgebracht, dies waren 2,37 Prozent des Bruttoinlandprodukts; Frankreich – in der Umstellung auf eine Berufsarmee begriffen – wendete 1998 über 60 Milliarden Mark für seine Verteidigung auf, 2,82 Prozent seines Bruttosozialprodukts. Fachleute haben bereits unter der Hand berechnet, wieviele Soldaten sich die Bundeswehr bei dem nunmehr gekürzten Haushalt von ca. 45 Milliarden leisten könnte – es wären 150.000 Berufssoldaten. Umstrukturierungen der Bundeswehr, zusätzliche Aufgaben, Stärkung des europäischen Pfeilers der Nato, Kürzungen im Haushalt und Umwandlung in eine Berufsarmee – alles dies zusammen geht nicht.

"Wer nicht kann, was er will, muß wollen, was er kann!", heißt ein alter Volksspruch. Da eine rein nationale Verteidigung vom Aufgabenspektrum her und aus volkswirtschaftlichen Gründen nicht machbar ist, entscheidet der Umfang der Streitkräfte, die Deutschland in das Bündnis einbringt, auch über unserer Rolle und die Möglichkeit, nationale Interessen durchzusetzen. Ob solches mit 150.000 Mann möglich wäre, ist zu bezweifeln. Ob es die Grenze dessen ist, was Deutschland aus finanziellen Gründen "kann", sollte man nicht dem Sparprogramm des Ministers Eichel überlassen.

 

Klaus Hammel, 60, Oberst i.G., war zuletzt Chef des Stabes Wehrbereichskommando VI /1. Gebirgsdivision. Er lebt in München als freier Publizist.


 
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