© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/99 10. September 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Sprachenkompromiß
Karl Heinzen

Nicht nur weltweit, auch innerhalb der Europäischen Union sind wir von vergleichbaren Standards und gemeinsamen Philosophien in der Bildungspolitik noch ein gutes Stück entfernt. Die Lehrpläne der Schulen tragen der Personalpolitik transnational operierender Unternehmen immer weniger Rechnung. Bereitet die Versetzung auf einen Arbeitsplatz, der nach staatlichen Kategorien im Ausland liegt, dem betroffenen Arbeitnehmer nur selten Probleme, ja, hat er sich für diesen durch entsprechende Sprachkenntnisse erst qualifiziert, so stehen seine Kinder plötzlich vor Herausforderungen in einem neuen Umfeld, auf die sie kaum vorbereitet sind.

Das geringe Humankapital, das sie bislang akkumulieren konnten, droht weiter im Wert zu sinken, da sie Zeit verlieren und per Saldo eine Einbuße an monetär bewertbaren Zukunftsperspektiven angenommen werden muß: Die mögliche Aneignung einer Fremdsprache wird in ihrer Selbstvermarktung von morgen kaum eine "unique selling proposition" begründen können. Viele Menschen, die mit dem Blick auf ein eigenes erfülltes Berufsleben und dem Sinn für die Bedürfnisse einer lebendigen Arbeitswelt auf Mobilität setzen, werden sich von der Vorstellung biologischer Nachkommen verabschieden müssen, um die dann nicht mehr Betroffenen vor Enttäuschungen und sich selbst vor seelischen und natürlich auch finanziellen Fehlinvestitionen zu schützen.

Der Staat kann hier allerdings unter Umständen einige mildernde Anreize setzen, um den Kinderwunsch auch unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts der ökonomischen Vernunft nicht ganz zu entfremden. Soll die Rentenlast von morgen nicht vollständig auf die Immigranten von heute und ihre Nachkommen abgewälzt, sondern auch von Autochthonen zumindest mit einem symbolischen Anteil mitgetragen werden, empfiehlt sich eine Bevölkerungspolitik, wie sie jetzt die niedersächsische Kultusministerin Renate Jürgens-Pieper vorgeschlagen hat: Bereits Grundschüler sollen ab der dritten Klasse Englisch lernen. Flankierend zu den per se größtenteils schon heute in dieser Sprache gewonnenen Medien-, Markenwelt- und Lifestyle-Erfahrungen werden deutschstämmige Heranwachsende in Zukunft auch im Unterricht fit dafür gemacht, den Berufs- und Konsumplänen ihrer Eltern jedenfalls nicht mehr grundsätzlich im Weg zu stehen. Sie gewinnen Sicherheit im Ausspielen ihrer Rolle als interessante Verbrauchergruppe und helfen der Industrie, Marketingkosten, die durch nationale Konzepte entstünden, zu sparen. Zugleich eröffnet die niedersächsische Initiative eine Perspektive für ein Zusammenleben von Menschen, die bislang allein durch die Zukunft und noch nicht durch die Vergangenheit geeint werden: Die Weltsprache Englisch könnte an unseren Schulen als ein vernünftiger Kompromiß aus der ethnischen Konkurrenz um die Unterrichtssprache von morgen hervorgehen.


 
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