© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/99 03. September 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Wahrheitsliebe
Karl Heinzen

Gerhard Schröder steht für eine Zäsur in der deutschen Politik – dieser Eindruck wird durch die ersten Monate seiner Regierung keineswegs revidiert. Die Menschen müssen allerdings erst lernen, das Neue auch zu begreifen. Viel zu viele verbinden mit Politik immer noch die Vorstellung, daß eine so richtig mächtige Steuerungszentrale des öffentlichen Lebens namens Regierung irgendein Programm umsetzt, das sie sich vorher vorgenommen hat und für das sie schließlich auch die Stimmenmehrheit erhielt. Der Mangel an Sinn für die Verfassungsrealität, der darin zum Ausdruck kommt, ist wohl leider im Volksglauben unserer Zeit angelegt: Wer etwas zu sagen hat, verkündet dieser, soll gefälligst demokratisch legitimiert sein. Und: Wer gewählt ist, soll auch etwas bewirken können. Parolen wie diese sind nun aber nicht einfach naiv und harmlos – sie können durchaus Anspruchshaltungen wecken und stabilisieren, mit denen sich für unser Land kaum Zukunftsfähigkeit erringen läßt.

Gerhard Schröder ist der erste Bundeskanzler, der diesen Atavismen nicht nur mit einem Lächeln begegnet, sondern ihnen demonstrativ entgegentritt. Dabei scheut er sich nicht, auch den Nimbus seines Amtes anzukratzen und die historische Bedeutung, die ihm allein durch dieses bereits zufallen könnte, geringzuschätzen gegenüber der Mission, Schein und Sein nach so langer Zeit wieder zur Deckung zu bringen. Der Regierungsumzug in die preußische Metropole beschert, so betrachtet, nicht nur praktische Vorteile einer besseren Kulisse in den Public Relations, er hat sogar Symbolcharakter.

Die Vergangenheit ist Geschichte: Nach dem Ende von Faschismus und Kommunismus haben sich die Menschen die Wahrheit redlich verdient, daß die bürgerliche Demokratie keine bloße Alternative ist, sondern die Prophylaxe zu Totalitarismus und damit Politik schlechthin sein muß, wenn sie ihrem Auftrag gerecht werden will. Vielleicht muß man tatsächlich, wie Gerhard Schröder, ein Linker gewesen sein, um dank einer realistischen Einschätzung staatlicher Möglichkeiten gut in seinem Job als Kanzler anzukommen. Je mehr die Menschen diesen Realismus teilen, desto eher werden sie geneigt sein, einen Politiker an seinen Worten und nicht an seinen Taten zu messen: Nicht was er sagt, ist hier aber wichtig, sondern wie er es sagt. Da er die Agenda, über die er spricht, nicht beeinflußt, darf man ihn auch nicht dafür zur Verantwortung ziehen, wenn sich bestimmte Ankündigungen nicht erfüllen. Sehr wohl kann man aber von ihm verlangen, daß er den richtigen Ton trifft.

Gerhard Schröders Kommunikationsstrategie ist so simpel wie wahrheitsliebend: Man darf als Kanzler nicht abheben, muß durchschaubar für die Menschen bleiben. Seine Philosophie gründet auf dem Vertrauen in die Reife unserer politische Kultur. Wer enttäuscht ist, darf selbstverständlich resignieren. Er darf sich nur nicht abwenden.


 
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