© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/99 27. August 1999


Fragwürdige Umfragen
von Philip Plickert

emoskopie – schon der Name klingt für den Normalbürger höchst verdächtig, anrüchig. Dabei hat die Demoskopie (etymologisch betrachtet) gar nichts zu tun mit irgendwelchen Zauberkünsten, sondern leitet sich aus dem Griechischen her von "demos" (Volk) und "skopein" (betrachten, schauen, prüfen). Die Demoskopie ist ein Teilbereich der empirischen Sozialwissenschaften und befaßt sich mit der Kunst der Meinungsforschung. Im Idealfall führt der Demoskop streng wissenschaftlich und möglichst neutral Befragungen durch, um so Rückschlüsse auf die Einstellung des Volkes zu politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen ziehen zu können. Dabei hat er zumindest in der Theorie nur das Volk im Blick, und nicht etwa die Auftraggeber seiner Studie! Die stichprobenartige Befragung dient einzig und allein der Wahrheitsfindung, die anschließende Veröffentlichung der Ergebnisse ausschließlich der Aufklärung und Information.

Doch die Wirklichkeit sieht, wie so oft, ganz anders aus. Nicht Information und Aufklärung, sondern Manipulation und Beeinflussung der Wählermassen sind häufig die Motive einer Umfrage. Etwa durch eine suggestive Fragestellung kann das Resultat in die gewünschte Richtung gelenkt werden. Die Methodik der Forschung differiert von Institut zu Institut zum Teil erheblich. Technisch läuft die Befragung so: Meist abends meldet sich am Telefon eine freundliche, junge Stimme, stellt sich als Mitarbeiter des Institut Soundso vor, plaudert ein wenig und stellt zunächst belanglose Fragen. Nun tastet er sich langsam vorwärts. Nicht derjenige, der das Telefon abgenommen hat, darf die "Sonntagsfrage" beantworten. Der Anrufer fragt nach der Anzahl von Erwachsenen im Haushalt, unter diesen erfolgt dann vornehmlich nach dem Geburtstag eine Zufallsauswahl. Ist die so ermittelte Person nicht zu Hause, versucht es der Interviewer zu einem späteren Zeitpunkt nochmal. Erschwerend kommt hinzu, daß viele der vom Computer Ausgewählten keine Auskunft geben. Viele Berufstätige sind nie anzutreffen, andere lassen grundsätzlich den Anrufbeantworter eingeschaltet, fast ein Fünftel der vergebenen Anschlüsse in Deutschland ist nicht im offiziellen Telefonverzeichnis. Einen repräsentativen Querschnitt durch alle Bevölkerungsgruppen kann man so nur bedingt erhalten. Von den 1.000 bis 3.000 vom Computer ausgesuchten Haushalten werden nur zwischen 40 und 60 Prozent "ausgeschöpft" – die Prognose, oft noch unter Zeitdruck erstellt, hat also eine recht geringe Basis, steht mithin auf etwas wackeligen Beinen. Es handelt sich also um ein Stimmungsbild, mitnichten um eine zuverlässige Voraussage des Wahlergebnisses, wie unseriöse Wahlforscher gerne glauben machen würden.

Je nach Größe der Stichprobe beträgt die mathematisch quantifizierbare Abweichung von der tatsächlichen Wählerverteilung 1 bis 3 Prozentpunkte. Die statistische Fehlermarge wird jedoch nur selten angegeben. Statistiken aus dem Hause Allensbach erwecken durch Angabe von Dezimalstellen sogar den Eindruck besonderer Genauigkeit. Die Allensbacher verzichten auf telefonische Befragungen, schicken dafür Aushilfskräfte von Haus zu Haus. Doch bekennen sich alle Menschen offen und ehrlich zu ihrer politischen Einstellung?

Die Mehrzahl scheut die Diskussion, und will Konfrontation oder Streit vermeiden. Auch wenn der Befragte einer anderen als der vermuteten Mehrheitsmeinung ist, wird er dies häufig nicht zeigen, um nicht aus der Reihe zu fallen. Dieses Phänomen der Verdrängung von Minderheitsmeinungen bis zu ihrer vollständigen Marginalisierung hat die Begründerin der modernen Meinungsforschung in Deutschland, Elisabeth Noelle-Neumann, die "Schweigespirale" genannt. Ihr fiel auf, daß der Prozentsatz von Befragten, die angaben, SPD (und später Grüne) zu wählen, immer deutlich höher lag als der tatsächliche Stimmenanteil linker Parteien später bei der Wahl. Umgekehrt bekannten sich viele Wähler der Union oder rechter Parteien nicht zu ihren politischen Präferenzen. Diese leichte Verschiebung führt Nölle-Neumann auf die Vorherrschaft linker Medien zurück. Das Rohmaterial der Zahlen mußte also nachträglich "gewichtet" werden, um eine einigermaßen realistische Prognose zu erhalten.

Mit der Veröffentlichung einer Umfrage gerät die Prognose nicht selten zum Argument in der politischen Auseinandersetzung. Die Umfrageergebnisse werden instrumentalisiert: Der eine fühlt sich bestätigt, tritt siegessicher und mit geschwellter Brust vor die Kamera, während der andere bekümmert etwas von "Momentaufnahme" und "die Stimmung kann sich ändern" in die Mikrophone jammert. Die Meinungsumfrage, ursprünglich Abbild der "Wirklichkeit", wird selbst als Teil dieser Wirklichkeit wahrgenommen, und die Prognose erfüllt sich letztlich selbst (self-fullfilling prophecy). Die meisten Menschen wollen zur Siegerpartei gehören; Mitleidsstimmen sind dagegen eher rar. Dieses Phänomen kommentieren die Amerikaner plastisch mit "the-winner-takes-it-all".

In Deutschland hat nicht nur die Zahl "7", sondern vor allem die Zahl "5" eine magische Bedeutung – zumindest bei kleinen Parteien. Über oder unter fünf Prozent der Stimmen einzufahren, das ist wie Sein oder Nichtsein. Ob einer kleineren Partei nun 4,9 oder 5,1 Prozent vorausgesagt werden, kann unterschiedliche Folgen haben. Niemand möchte seine Stimme verschenken, eine Partei deren Aussichten als "chancenlos" bezeichnet werden, wird es auch sein. Dagegen profitiert eine andere Partei vermutlich von der Meldung, sie liege knapp über der Hürde. Die Wähler fühlen sich bestätigt und verwirklichen ihre Wahlabsicht. Die FDP brät hier eine Extrawurst: Bei einem zu geringen Stimmanteil kommen bei der Bundestagswahl von der Union dann haufenweie "Leihstimmen".

Die Meinungsforschungsinstitute haben also eine beträchtliche Macht, da ihnen breiter Spielraum für Interpretation bleibt. Damit entscheiden sie mit über Wohl und Wehe einer Partei. Auftraggeber der Studien sind Zeitungen, Fernseh- und Radiosender, aber auch Verbände und Parteien. Fällt das Zahlenmaterial trotz liebevoller Aufbereitung nicht wie gewünscht aus, dann verschwindet das Papier eben unveröffentlicht in einer Schublade, so einfach ist das.

Es gibt Institute, die der SPD nahestehen, andere gelten als eher bürgerlich eingestellt. Der Chef des Forsa-Instituts, Manfred Güllner, ist seit dreißig Jahren SPD-Mitglied, und mit schöner Regelmäßigkeit taxiert er seine Partei ein paar Prozentpunkte zu hoch. 1996 wurde Güllner wegen seiner waghalsigen Prognosen zur 1994er Bundestagswahl vom Arbeitskreis Deutscher Marktforschungsinstitute offiziell eine Rüge erteilt – einmalig in der Verbandsgeschichte. Damals wurde moniert, daß der Forsa-Chef in einem Interview den Wiedereinzug der FDP ins Parlament als praktisch unmöglich dargestellt hatte, ohne auf die potentielle Fehlermarge von 1,2 Prozent seiner Prognose hinzuweisen. Neben den eher "linken" Instituten gibt es jedoch auch die eher "bürgerlichen": Elisabeth Noelle-Neumann war Beraterin von Helmut Kohl, stand also im Ruf einer Konservativen. Dennoch ließ sie sich nicht zu Überbewertungen der Union hinreißen. Die Daten aus Allensbach am Bodensee kommen den tatsächlichen Wahlergebnissen meist erstaunlich nahe.

Im Jahr 1998 aber ermittelten Frau Noelle-Neumann und die Geschäftsführerin des Allensbach-Institutes, Renate Köcher, zunächst deutlich niedrigere Werte für die Union als alle anderen Umfragen-Institute: Emnid, Infratest, die Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen und auch Forsa handelten die Union zwischen 36 und 37 Prozent, während Allensbach Anfang August 33, dann 34,5, bald 35 und Ende August bereits 35,5 Prozent vermeldete. Es ging also steil nach oben, und die Blätter waren voll von der "spannenden Aufholjagd". Der Versuch, den müden Wahlkampf der Union zu "dynamisieren", wie die Zeit damals schrieb, war dennoch erfolglos.

Rekapituliert man die größten Pannen der Wahlforscher in den letzten Jahren, so fällt eine gewisse Asymmetrie auf. Bei den etablierten Parteien gibt es zwar manchmal eine gewisse Lücke zwischen antizipiertem und tatsächlichem Ergebnis, doch der Wettbewerb zwischen den Meinungsforschern, sowie deren Sorge um ihren wissenschaftlichen Ruf verhindern zu offensichtliche Mogeleien. Wer ständig danebenliegt, bekommt schließlich keine Aufträge mehr, wem vorsätzliche Manipulation nachgewiesen werden kann, der ist erledigt, es sei denn...

War es ein Versehen oder Vorsatz? Einhellig bescheinigten die Umfragen 1996 den Republikanern in Baden-Württemberg ein baldiges Ende ihrer parlamentarischen Existenz. Als der Wahlgang den Republikaner erneut fast zehn Prozent der Stimmen einbrachte, herrschte große Erklärungsnot angesichts des kollektiven Versagens der Demoskopen. Renate Köcher gab schließlich in einem Interview zu, die Werte der ungeliebten Rechtspartei künstlich unter fünf Prozent gedrückt zu haben. Etwas kraus war die Entschuldigung bei ARD und ZDF: Nachdem man wochenlang tendenziöse Werte veröffentlicht hatte, bemerkte man dort angeblich wenige Tage vor der Wahl einen starken Anstieg der Wählerzustimmung für die Republikaner. Diese Zahlen wollte man dann aber nicht mehr publik machen, um, einer seit langem praktizierten Abmachung folgend, "die Wähler nicht zu beeinflussen".

Der DVU-Erfolg im April 1998 in Sachsen-Anhalt ist ein weiteres Beispiel für die merkwürdige Schieflage bei den Umfragen. Erst wird die tatsächliche Stimmung geheimgehalten, kurz vor der Wahl entdecken die Forscher wieder eine rasante Vermehrung der DVU-Wähler, doch diese Erkenntnisse können dann leider nicht mehr veröffentlicht werden. Sinn und Unsinn der Demoskopie hängen also stark von der Redlichkeit und Neutralität der Meinungsforscher ab. Darüber hinaus bleiben die sonstigen Unwägbarkeiten einer Stichprobe und der notwendigen Gewichtung der Rohdaten angesichts eines zunehmenden Gesinnungsdrucks.

Einen ganz anderen Weg zur Ermittlung der politischen Stimmung hat eine Gruppe Studenten eröffnet. Im Internet haben sie eine "Börse" für Umfragewerte installiert. Man kauft Parteien, die man zu niedrig bewertet findet, und verkauft solche, die eher überbewertet scheinen. Da mit echtem Geld bezahlt wird, wäre eine vorsätzliche Manipulation ein teurer Spaß, zudem völlig sinnlos, da die "Börse" nur eine geringe Außenwirkung hat. Diese Methode ergab schon recht brauchbare Ergebnisse. Allerdings stellt sich auch hier wieder die Frage, wie repräsentativ die "Internet-Händler" für die ganze Bevölkerung sind. Noch sind es vorwiegend junge Leute, doch in absehbarer Zeit wird sich die Gruppe der Internet-Benutzer hinreichend dem Bevölkerungsschnitt angleichen. Sobald der anonymen Internet-Befragung jedoch eine gewisse Repräsentativität zugebilligt wird und die Ergebnisse publiziert werden, werden interessierte Kreise wieder die Ergebnisse in ihrem Sinne zu beinflussen suchen, etwa durch Massenmobilisierung ihrer Anhängerschaft.

Es stellt sich die grundsätzliche Frage, was mit Umfragen zur politischen Lage erreicht werden soll. Sind sie vornehmlich Trümpfe in der politischen Auseinandersetzung, oder dienen sie den Herrschenden zur Information über die Stimmung im Volk und damit als Leitfaden ihrer zukünftigen Politik? Um eine mögliche Instrumentalisierung der Umfragedaten auszuschließen, dürften diese eigentlich nicht veröffentlicht werden. Dem steht natürlich das Recht auf Information entgegen! Wie man es dreht und wendet, der einzige Ausweg aus dem Dilemma ist eine verstärkte Aufklärung über die Fragwürdigkeit jeglicher demoskopischen Erhebung ausgeschöpft"

 

Philip Plickert, 20, studiert nach seinem Wehrdienst Volkswirtschaft in München.


 
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