© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/99 27. August 1999


Partei-Justiz: Allein in den 80er Jahren verbüßten etwa 55.000 DDR-Bürger politisch bedingte Haftstrafen
Widerstand konnte teuer zu stehen kommen
Uwe Ullrich

Die Fragen von unrechtmäßig verbüßter Haft und Haftfolgeschäden bei ehemaligen politischen Gefangenen in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR beschäftigen Politik und Öffentlichkeit in der alten Bundesrepublik Deutschland bereits seit Jahrzehnten. Ärzte, Gutachter sowie Opfer und ihre Verbände führten über die Institutionen heftige Auseinandersetzungen, die häufig mit unbefriedigten Ergebnissen für die Interessen der früheren politischen Gefangenen endeten. Für die nach dem Ende der Haft im Land Gebliebenen existierte bis zum Ende der DDR-Eigenstaatlichkeit nicht einmal die Möglichkeit, öffentlich auf ihre Probleme aufmerksam zu machen.

Selbst fast zehn Jahre nach dem Wendeherbst 1989 ist die Situation für die Betroffenen in den alten und neuen Bundesländern immer noch unbefriedigend. So muß das kürzlich erfolgte Karlsruher Rentenurteil für die Opfer der DDR-Justiz ein Schlag ins Gesicht sein. Seit dem 1. Juli erhalten Staats- und Parteifunktionäre wesentlich aufgebesserte Rentenbezüge und beträchtliche Nachzahlungen. Demzufolge gehen monatlich auf das Konto eines 40 Jahre dem Ministerium für Staatssicherheit Dienenden 1.680 Mark (vorher: 1.000 Mark) zuzüglich einer Nachzahlung in Höhe von 42.800 Mark. Nomenklaturkader, wie beispielsweise ein SED-Kreissekretär, bekommen jetzt 2.980 Mark monatliche Rente und eine Nachzahlung von mehr als 35.000 Mark. Zum Vergleich: Das Mitglied der Streikleitung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953, Heinz Grünhagen, war von Juni 1953 bis Januar 1957 in Haft. Er erhält gegenüber seinen früheren Arbeitskollegen eine um 50 Mark geringere Monatsrente. Nach 45jähriger Arbeitszeit, nur durch die Haftzeit unterbrochen, lebt der Pensionär von monatlich ungefähr 1.700 Mark.

Die offiziellen Stellen der DDR hüteten sich in der Zeit ihres Bestehens, Angaben über die Zahl politischer Strafverfahren und Häftlinge zu veröffentlichen. Im Gegenteil: bereits 1950 wies das Justizministerium in einem Rundschreiben seine Angestellten darauf hin, daß es verboten sei, den Begriff "politischer Häftling" im offiziellen Sprachgebrauch zu benutzen. Lediglich bruchstückhaft sind Informationen über aus politisch motivierten Gründen Inhaftierter in den Archiven zu finden. Sogenannte "staatsfeindliche Umtriebe" wurden grundsätztlich als "kriminelle Straftaten" verfolgt. Nur die Strafpolitik nach dem 17. Juni 1953 ist durch ihren "bekennenden Justizterror" in die Schlagzeilen der Medien in der deutschen Arbeiter- und Bauernmacht gelangt. Die DDR-Presse berichtete breit und ausführlich über die politischen Strafverfahren, bedeutende Schauprozesse wurden in der DEFA-Wochenschau agitatorisch präsentiert. Die Zahl der aus politischen Gründen in Haft einsitzenden Bürger der Republik wird in diesem Zeitraum auf ungefähr 30.000 bis 35.000 Personen geschätzt.

Daß die politische Strafjustiz der DDR weit über die Abwehr wirklicher und vermeintlicher Angriffe auf das sozialistische System für andere Zwecke instrumentalisiert wurde, zeigt sich an einem "Delikt", welches die Geschichte des deutschen Sozialismus vom ersten bis zum letzten Tag begleitete und schließlich den unmittelbaren Zusammenbruch des Staatswesens einleitete: die Flucht aus der DDR. Allein der Wunsch nach Ausreise brachte Jahr für Jahr Tausende in Haft, obwohl in der Verfassung der DDR im Wortlaut vom 7. Oktober 1949, Artikel 10, geschrieben stand: "Jeder Bürger ist berechtigt, auszuwandern."

Doch angesichts einer Fluchtwelle, die zwischen 1949 und 1961 dazu führte, daß ungefähr zweieinhalb Millionen Bewohner dem Staat den Rücken kehrten, ahndete das System die Tatsache mit strafrechtlichen Mitteln. Gegen die sogenannte Republikflucht nutzte die Justiz abenteuerliche Rechtskonstruktionen. Unter anderem galt laut Strafgesetzbuch das Verlassen der DDR ab 1958 als Verstoß gegen das Paßgesetz, zehn Jahre später als "ungesetzliches Verlassen". Bis 1983 blieb die Behandlung von Ausreisewilligen völlig unkalkulierbar. Seit diesem Jahr war die SED-Führung aus außen- und innenpolitischen Gründen gezwungen, den schon vorher unterzeichneten international verbindlichen Dokumenten Genüge zu tun. Die im Land veröffentlichte förmliche Regelung, die ein Recht auf Antrag für die Ausreise enthielt, wurde durch eine Dienstanweisung von Erich Mielke sofort unterlaufen. In ihr ist ein Katalog von Anschuldigungen – landesverräterische Nachrichtenübermittlung, staatsfeindliche Hetze, Zusammenrottung und anderes – festgelegt, der Ausreiseantragsteller von ihrem Ansinnen abbringen sollte.

Im letzten Jahrzehnt der DDR verbüßten zirka 55.000 Menschen politisch motivierte Haftstrafen. Den staatlichen Zusammenbruch der DDR konnten selbst diese drakonischen Maßnahmen nicht mehr aufhalten.


 
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