© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/99 27. August 1999


Leitbilder: Was junge Leser von Goethe lernen können
Vorwärts zu den Quellen
Götz Kubitschek

Das schlimmste Schicksal, das Ernst Jünger im Verlauf der nächsten Jahre zustoßen könnte, wäre dieses: Der Bildungsbürger entdeckt ihn als Chronisten unseres Jahrhunderts, reiht ihn in seine Halblederbibliothek ein und macht aus dem stacheligen Nonkonformisten einen Klassiker. Der Umstrittene endet im Bildungskanon.

Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) hat dieses Schicksal schon erlitten: Der Streit um das Revolutionäre, Antibürgerliche, Jugendbewegte, Rücksichtslose, Geniale seiner Werke ist zu einer Kommadiskussion alternder Germanisten verkommen. Viel zitiert wird in diesen Tagen die richtige Bemerkung, daß zwar jeder Deutsche Goethe kenne und verhackstückt im Munde führe, jedoch kaum einer auch nur ein Werk gründlich gelesen habe. Kleine Umfragen in den Seminaren für Neuere Deutsche Literatur nähren den Verdacht, Klassiker würden vor allem deswegen nicht gelesen, weil es sich um Klassiker handle.

Die Bücher- und Acessoire-Schlacht um Goethes 250. Geburtstag tobt nicht mit der Stoßrichtung einer Rückgewinnung des Dichters für die deutsche kulturelle Substanz, sondern versucht ganz im Sinne der Marktwirtschaft die Geldbeutel der Kulturtouristen zu öffnen. Verpackung ist alles: Goethe der Stasispitzel, Goethe der Säufer, Goethe der Hurenbock, der Schleimer, der Korken, der immer oben und mit der Strömung schwimmt, der Menschenverächter, Menschenvernutzer, Egomane, Schnösel und Großmeister der Mittelmäßigkeit; Goethe, der maßlos Überschätzte, der schlußendlich nicht viel toller war als ich und du und Müllers Kuh.

Ein Autor ist dann ad acta gelegt, wenn seine Werke nicht mehr gelesen werden, sein Leben nicht mehr als Ganzes wahrgenommen und gewürdigt wird, sondern nur noch seltsam schrille Anekdoten im Jubiläumsjahr ins Gehirn der Konsumenten vordringen: So wissen wir nun, daß Goethes Sarg schon in DDR-Zeiten geöffnet wurde, die Knochen sortiert sind und ein wenig länger der Staubwerdung trotzen werden. Und das aufgefrischte Wissen um des Dichters Umgang mit Wein und Weibern wird den Schock des Millennium-Wechsels eventuell um ein paar Wochen überdauern, wenigstens etwas also, das hinübergerettet werden kann.

Dabei könnte es viel mehr sein. Aus dem ad acta könnte (und sollte) ein ad fontes werden, ein ganz und gar nicht nostalgisches "zu den Quellen". Das knüpft beispielsweise an die großen Angriffe Goethes auf eine alles trennende und nichts mehr vereinende moderne Wissenschaft an. Goethes Kampf mit Newton ist in diesem Sinne nur die Personifikation des Kampfes zwischen mechanischer und organischer Weltsicht. Auch Goethe verzichtete nicht aufs wissenschaftliche Experiment. Aber er warnte davor, Laborergebnisse auf die freie Wildbahn zu übertragen. Damit ist er hochmodern und kann Philosophen wie Heidegger, Wissenschaftler wie Dürr und Schriftsteller wie Friedrich Georg Jünger zu seinen Schülern rechnen.

Ein "zu den Quellen" im Stile einer Vorwärtsbewegung könnte auch zu einer Beschäftigung mit unserer maroden Leitbildkultur führen: Nicht nur für Germanisten ist die Entwicklung Goethes vom Stürmer und Dränger zum stetigen Geheimen Rat und schließlich zur Verkörperung der Weimarer Klassik interessant. Aus einem "Werther" wird ein "Tasso" und schließlich ein "Wilhelm Meister", die Einsicht wächst, daß Kompromisse und Zugeständnisse notwendig sind und daß nicht alle "Knabenmorgenblütenträume" reifen. Im Nachvollzug der Biographie des jungen Goethe steckt deshalb die Chance für jeden jungen Leser, ein Leitbild zu finden, das nicht im Mittelmaß endet: Bevor Goethe damit begann, seinen gesellschaftlichen Platz in Weimar auszufüllen, raste er prometheisch durch die Dichter- und Gefühlslandschaft seiner Zeit. In Weimar (und nicht zuletzt an Charlotte von Stein) erkannte er, daß sein Stürmen und Drängen ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr befreiend, sondern im Gegenteil als beengende Hanswurstrolle wirken mußte. Der billige Weg hätte nun in den Zynismus geführt, ins Lachen und Spotten über die bürgerliche Gesellschaft und ihre Ordnungen. Goethe aber sah den Kompromiß als Notwendigkeit jeden Lebens, litt und zweifelte, als er sich häutete, und stieß dann doch wieder – mit veränderter Sichtweise – in sein Umfeld vor.

Berühmt geworden ist seine Arbeitsweise: Früh auf, konzentrierte Arbeit, dann gutes Essen, Gespräche, Geselligkeit, am Nachmittag Studien und Lektüre, abends wenn möglich Freunde, Wein, ein Spaziergang. Goethe ermüdete nicht, weil er im entscheidenden Moment die Tätigkeit wechselte. Von ihm stammen die Regeln, daß angesichts eines gewaltigen Arbeitsberges der nächste Schritt immer das Beste sei, daß alles, was nicht unter Anspannung aller Kräfte begonnen würde, immer Mittelmaß bleibe, und daß das Volk der beste Lehrmeister sei.

Gerade politische oder gesellschaftliche Gruppierungen, denen ebenfalls nicht alle Knabenmorgenblütenträume reifen, können mit Goethe den Zynismus vermeiden lernen und sich mit kleinen Schritten auf den berühmten langen Marsch machen (als organisch denkender Mensch lehnte Goethe Revolutionen ohnehin ab). Titanische Naturen gewinnen vielleicht nach der Lektüre des "Tasso" die Einsicht in eine Notwendigkeit des Kompromisses. Zwanzigjährigen jedoch muß deutlich werden, daß der Weg in die Rechtschaffenheit über Prometheus führt.


 
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