© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/99 20. August 1999


Jüdische Gemeinden: Anmerkungen zur Zukunft des Zentralrats
Abkehr vom Sonderstatus
Andrzej Madela

Auf den ersten Blick schlossen die Interviews einander aus. Nach fünf Jahren verlasse er dieses Land mit den besten Gefühlen, meinte der scheidende israelische Botschafter Avi Primor beim Berliner Sender B1. Es sei einfach ein Erfolg, daß Deutschland und Israel zur erwünschten Normalität untereinander gefunden haben; und spätestens mit dem politischen und biologischen Abgang der Gründergenerationen in beiden Ländern breche sich zusehends eine pragmatischere Beziehung zueinander Bahn.

Der da im anderen Interview zu Wort kam, gehörte selbst einer Gründergeneration an. Indes mochte er in seinem Gespräch mit der Illustrierten Stern, das am 29. Juli erschienen war, von Erfolg nichts hören. Fast nichts habe er bewirkt, Deutsche und Juden seien einander fremd geblieben. In den letzten Jahren wäre ein gewachsenes Desinteresse füreinander wahrzunehmen. Die Unruhe darüber steht denn auch hinter seinem Satz, daß dies wohl mit ihm selbst zu tun haben könnte.

So stand also dem eloquenten Energiebündel mit seiner überlegenen Formulierungsgabe ein grüblerisch gewordener alter Mann gegenüber, der unvermittelt nach Halt suchte, den er von Amts wegen selbst zu geben hatte, ein schwer Gezeichneter, dem der Glaube an seine Mission abhanden gekommen war. Der Zentralrat der Juden in Deutschland erlebte einen Augenblick lang eine Krise der Führung, die, ihrer Aufgabe unsicher geworden, den Verband in der Selbstisolation wähnt.

Dabei hat die Krise längst alle bundesrepublikanischen Verbände erfaßt, die auf Vergangenheit fixiert und folglich mit dieser geschlagen sind. Verblüffende Parallelen tauchen beim Vergleich des Zentralrats zum Bund der Vertriebenen auf. Hier wie dort eine hoffnungslose Übermacht der gehörig in die Jahre gekommenen Erlebnisgeneration samt allen Auswirkungen – Platzhirschmentalität und festgefügte Strukturen inklusive. Hier wie dort eine erschreckende Abhängigkeit von des Innenministers Überweisungen, deren Höhe in wachsenden Widerspruch zur zunehmenden Vergreisung der Empfänger gerät. Hier wie dort eine Wächter-Perspektive, die nur mühsam ihren Alleinvertretungsanspruch auf Vergangenheitsverwaltung aufgibt, obwohl andere längst präziser, effizienter, zuweilen auch glaubwürdiger arbeiten.

Die wahre Crux des Zentralrats ist indes seine Sprache. Nicht genug damit, daß junge Deutsche etwa mit "Ghetto" und "Isolation" längst zumeist eine von Farbigen bewohnte Slumslandschaft assoziieren, in der geringes Einkommen und soziale Immobilität den Alltag prägen. Schwerer wiegt, daß in der öffentlichen Wahrnehmung die Sprache des Zentralrats der Juden identisch ist mit einer Mahn-, Wach- und Warninstitution, hartnäckig damit beschäftigt, Spuren eines schwer faßbaren, doch nahezu omnipräsenten (Neu-)Nazismus bis ins sprichwörtliche Krähwinkel zu verfolgen. Für den durchschnittlichen Butterbrotesser ist der Verband somit wenig mehr als ein verlängerter Arm der Bundeszentrale für politische Bildung. Als konfessionelle Gemeinschaft wird er hingegen kaum identifiziert.

Solange der Verband in der öffentlichen Wahrnehmung eine Nische zwischen Bundeszentrale und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) einnahm, mochte der eigentliche Mangel an Profil nur wenigen auffallen. Er wurde zusätzlich überdeckt durch seinen größten Erfolg unter Bubis’ Führung – die soziale, kulturelle und konfessionelle Integration von über 100.000 Sowjetbürgern jüdischen Glaubens, die seit Anfang der 90er Jahre nach Deutschland kamen. Diese vielgelobte Leistung hatte die Jüdischen Gemeinden im buchstäblich allerletzten Augenblick vor Bedeutungsverlust durch Vergreisung und Mitgliederschwund gerettet.

Nun ist gerade dieser Erfolg zum Vater der Krise geworden. Denn die jungen Russen jüdischen Glaubens, geboren zwischen 1945 und 1970, haben allenfalls eine schulbuchmäßige Beziehung zum Nationalsozialismus; ihre prägende Erfahrung ist die einer sozialen, kulturellen und ethnischen Benachteiligung im Zeichen (post-)sowjetischen Antisemitismus, dem sie sich durch die Ausreise entzogen haben.

Daraus folgt – zum zweiten –, daß ihr Vertrauen in die zivilgesellschaftlichen Normen der Bundesrepublik viel ursprünglicher, fester und unverbrauchter ist als das der seit altersher ortsansässigen Gemeindemitglieder.

Zum dritten ist durch Sprach- und Berufserwerb, teilweise durch Umschulung und Qualifizierung die junge Generation der Neuankömmlige gehalten, sozial und kulturell in einer deutschen Umwelt Fuß zu fassen. Und da der Schwerpunkt der Integration nicht in der Konfession, sondern in der Arbeits- und Freizeitwelt liegt, muß die jeweilige Gemeinde zwangsläufig in den Hintergrund treten. Genauer: Sie erhält den Platz, der ihr als religiöser Gemeinschaft – und nur dieser – gebührt. Paradoxerweise ist demnach der Zusammenhalt der Jüdischen Gemeinden nur um den Preis eines lockerer gehandhabten Gemeindelebens möglich.

Längst hat der Verband eine eigene, erfolgreiche Nomenklatura – Voraussetzung jeglicher Funktionstüchtigkeit moderner Vereinigungen – samt dazugehörigem Finanz- und Geschäftsgebaren herausgebildet. Eine schlüssige Antwort auf das Wozu steht allerdings noch aus. Sie dürfte nicht leicht fallen, zumal die Verbündeten von gestern keine geschlossene Front mehr darstellen. Besonders belastet bleiben die Beziehungen zur jüngeren Generation deutscher NS-Forscher, aber auch zu Arnulf Baring und Martin Walser, bei deren Texten dem Vorsitzenden des Zentralrates Mahnung und Meinung mehrfach folgenschwer durcheinandergeraten sind.

Einen deutlichen Wink der neuen Führung wird es brauchen, sollten kritische Geister gleichen Glaubens ins selbe Boot zurück. Denn mittlerweile haben sich Intellektuelle wie Michael Wolffsohn, Henryk M. Broder und Rafael Seligmann jenseits des verkrusteten Verbandes etabliert und werden nicht müde, ihm eine – in ihren öffentlichen Folgen verheerende – Beteiligung an einer gigantischen "Bewältigungsindustrie" (Henryk M. Broder) um die Ohren zu hauen, bei der der materielle Aspekt den historischen immer mehr verdrängt.

Wird zur künftigen Arbeit ein neuer Name gehören? Im bisherigen manifestiert sich jedenfalls noch ein Sieg Adolf Hitlers über die Erfahrung von heute. Nimmt man den Namen ernst, so müßte in Deutschland eine ethnisch halbwegs homogene Minderheit der Juden existieren, die weder kulturell noch geschichtlich mit den Deutschen zu tun hat. Die Trotzreaktion der Holocaust-Überlebenden von 1945 und ihre – vielfach übersteigerte und in der Praxis nie durchgehaltene – Absage an die deutsche Tradition mögen sehr wohl nachvollziehbar sein; ihr Niederschlag im Namen läßt indes vergessen, daß es um Deutsche jüdischen Glaubens geht, die unter anderen Deutschen am besten aufgehoben sind, wenn weder den einen noch den anderen ein Sonderstatus zufällt.


 
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