© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/99 20. August 1999


Französisch: Es gibt nicht eine Sprache in der Republik
Ein eisernes Korsett
Jean-Jacques Mourreau

Frankreich kann die europäische Regional- und Minderheitensprachen-Charta nicht ratifizieren. So hat es jetzt der Verfassungsrat entschieden. Der französische Präsident hatte bislang die Verfassungsänderung abgelehnt, die ihm Lionel Jospin vorgeschlagen hatte. Aber jenseits der politischen Auseinandersetzungen ist diese Debatte auch Ausdruck speziell französischer Neurosen. Nach sieben Jahren der Diskussionen und Aufschübe war mit einer Verabschiedung unter Vorbehalten zu rechnen gewesen. So kam das Urteil des Verfassungsrates vom 15. Juni auch eher überraschend, die europäische Regional- und Minderheitensprachen-Charta enthalte Bestimmungen, die mit den Artikeln 1 und 2 der französischen Verfassung unvereinbar seien, so man davon ausgeht, daß "das Prinzip der Einheit des französischen Volkes (...) einen konstitutionellen Wert darstellt". (Artikel 1 besagt, daß "Frankreich eine unteilbare Republik ist", Artikel 2 bestimmt, daß "die Sprache der Republik das Französische ist".) Premierminister Lionel Jospin kündigte sogleich an, Präsident Chirac einen Vorschlag zur Verfassungsänderung unterbreiten zu wollen, damit Frankreich die europäische Charta annehmen kann.

Danach gab es eine zweite Überraschung: Die Entscheidung Jacques Chiracs, der am 23. Juni bekanntgab, er werde "keine Initiative in Richtung einer Verfassungsänderung, die den Grundprinzipien der Republik Schaden zufügt", ergreifen. Die Linke wie die Rechte begrüßten diese Ankündigung. Innenminister Jean-Pierre Chevènement, der aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Charta keinen Hehl gemacht hat, behauptet, die Anerkennung von Regionalsprachen liefe auf eine "Balkanisierung Frankreichs" hinaus. Charles Pasqua, der als jakobinischer Eiferer bekannt ist, zeigte sich offen erfreut. Die "Souveränisten", die seit einigen Monaten mobil machen, um gegen diesen Anschlag auf die Einheit Frankreichs zu protestieren, bekommen sich vor Freude nicht mehr ein. Schließlich haben sie Frankreich aus großer Gefahr gerettet.

Frankreich wird nur als Einheitsstaat begriffen

Jenseits der politischen Erwägungen – die gemeinsame Regierung mit Jospin zwingt Chirac ständig zu beweisen, wer der Stärkere ist – zeigt das Scheitern der europäischen Charta die geistige Starrheit der politischen Klasse Frankreichs. Auf dem Fließband der Ecole nationale d‘administration (staatlichen Verwaltungsschule) produziert, können deren Vertreter Frankreich nur als Staat begreifen. Ihr Gedankengut läßt sich unmittelbar aus den absolutistischen Vorstellungen des "Sonnenkönigs" Ludwig XIV. herleiten, der gleichzeitig ein "Kriegskönig" war und das königliche Amt entstellte. Die Revolution sowie das eiserne Korsett, in das Napoleon Frankreich zwang, bestärkten diese Entwicklung. Auf fatale Weise hat sie dazu geführt, daß der Staat als höchster Wert geheiligt wird.

Diese politische Klasse hat ohne die geringsten Skrupel die Völker geopfert, aus denen Frankreich sich zusammensetzt. Die Wünsche des Volkes interessieren sie nicht. In der Geschichte des Regionalismus zeigt sich zum einen das Fortbestehen einer Forderung über zwei Jahrhunderte hinweg, zum anderen ihre ständige Mißachtung seitens der politischen Machthaber. Die Kultur, die sich der Einfachheit halber als "jakobinische" beschreiben läßt, findet ihre Entsprechung in der Vorstellung von einer einheitlichen, abstrakten Staatsangehörigkeit und einem Frankreich, das von jeher von seinen "natürlichen Grenzen" bestimmt war. Der Grundsatz der "unteilbaren Einheit Frankreichs", den der Abgeordnete Rabaut Saint-Etienne am 9. August 1791 in der verfassungsgebenden Versammlung ausrief, gab dieser Auffassung weiteren Auftrieb. (Seinen eigenen Kopf konnte er trotzdem nicht retten.) Im Namen dieses Grundsatzes hat der französische Staat ganze Regionen verwüstet, die autochthonen Kulturen auf seinem Staatsgebiet vernichtet und offenkundige Differenzen mit den Kolonialvölkern geleugnet.

Zugleich ist das Psychodrama um die europäische Charta symptomatisch für eine Identitätskrise Frankreichs. Durch das Problem der außereuropäischen Einwanderer gelähmt, versteift sich Frankreich auf Grundprinzipien, von denen man sich die Stabilität einer französischen Identität verspricht, die in ihrer Abstraktheit unangreifbar bleibt. Wenn Jacques Chirac so tut, als habe er gegen die Anerkennung und weitere Verbreitung der Regionalsprachen nichts einzuwenden, so geschieht das nicht ohne eine unbewußte Heuchelei. Hier wie in anderen Bereichen erweist er sich als Erbe des Radikalismus der Vorkriegszeit. Jean-Pierre Chevenèment stimmt in ebendiesen Refrain ein, wenn er in einem verächtlichen Tonfall erklärt, auch er kommuniziere bisweilen im "Dialekt der gehobenen Doppelzüngigkeit". In der derzeitigen Debatte bedient sich der Teil der Linken, der als "modern und europäisch" gelten möchte, derselben Heuchelei. Noch gestern war sie sehr von dem Fortschrittsgedanken durchtränkt, daß sie hartnäckig an Vorurteilen gegenüber den Regionalsprachen und -kulturen festhielt, die sie im Verdacht hatte, "Obskurantismus" und "Aberglauben" zu befördern. Heute gibt sie sich den Anschein, um das kulturelle Erbe der französischen Regionen bemüht zu sein.

Im Schein des Schutzes vom Erbe der Region

Doch ihre Bemühungen beschränken sich auf Worte. Die administrativen Schikanen, mit deren Hilfe die Zuteilung von Subventionen an bretonische Schulen verhindert werden soll, ist genauso ihnen zu verdanken, wie das Schicksal der deutschen Sprache im Elsaß. Beim Studium des Berichts von Professor Guy Carcassonne wird deutlich, daß die europäische Charta als trojanisches Pferd mißbraucht werden soll, um die Frage der konstitutiven Identitäten Frankreichs in einem "kommunitaristischen" Projekt amerikanischer Provenienz aufzulösen, so daß die "Einwanderungssprachen" – insbesondere die Sprache der Berber – denselben Stellenwert hätten wie das Bretonische, das Korsische oder das Baskische. Die Worte Professor Olivier Duhamels, Europaabgeordneter der sozialistischen Liste, vermitteln ein überaus genaues Bild davon, was er unter "Offenheit" und "Vielfalt" verstanden wissen möchte. Sicher gibt es auf der anderen Seite auch die Stimme von Gilles Perrault, der in einem kleinen Pamphlet lautstark die Sache der Basken vertritt. Damit steht Perrault jedoch einsam auf weiter Flur.

Die Rechten, die seit 1945 nichts anderes getan haben, als ideologisch von Berezina nach Waterloo zu ziehen, eine Niederlage nach der anderen einzustecken, sind nicht in der Lage, etwas Relevantes zu der Debatte beizutragen. Es ist der Initiative eines der Ihren zu verdanken, daß die Verfassungsrevision von 1992, die in der Logik der politischen Hegemonie abgefaßt ist, festschrieb, daß "Französisch die Sprache der Republik ist". Die einzige Fraktion, die noch Alarm schlägt, gerät selber in eine Sackgasse, indem sie sich auf den "Souveränismus" versteift. Ihre boulangistisch gefärbte Ideologie erschöpft sich in anti-europäischen Parolen und täuscht kaum über die zugrundeliegenden unerfüllten Rachegefühle und Anklänge von Deutschlandfeindlichkeit hinweg.

Die Rechten haben gedanklich niemals eine französische Identität entworfen, die über Galionsfiguren wie Vercingetorix, Jeanne d‘Arc, Napoleon oder de Gaulle hinausgeht. Darüber hinaus haben sie von einem Großteil jener Positionen Abstand genommen, die in der Vergangenheit ihre Stärke ausmachten: Regionalismus, Dezentralisation, Antikolonialismus. So sind die Tiraden eines jungen Gobineau in Vergessenheit geraten, der gemeinsam mit Louis de Kergolay den Appel aux "Provinciaux" ("Aufruf an die ‘Provinziellen’") veröffentlichte. Genauso vergessen ist die Petition zugunsten des regionalsprachlichen Unterrichts vom März 1870, die Professor Charles de Gaulle, ein Großonkel des Generals, zusammen mit zwei anderen prominenten Persönlichkeiten an die Legislative richtete. In dieser Bittschrift hieß es: "Können wir nicht verlangen, daß die Sprachen der Poesie und der Konversation erhalten bleiben, daß sie zusammen mit Französich in der Grundschule unterrichtet werden? Ist es nicht ein unermeßlicher Vorteil für ein Volk, zwei Sprachen zu beherrschen?" Diese Rechten, die sich manchmal als "national gesinnt" bezeichnen – wissen sie nicht einmal, daß es die Völker sind, die die Nationen ausmachen?


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen