© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/99 13. August 1999


DDR: Ein Oberstleutnant im Gewissenskonflikt zum Fahneneid der Nationalen Volksarmee
Rebellion in der NVA-Hochschule Grünau
Werner H. Krause

Für den ehemaligen Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee (NVA) und Dozenten an der Militärpolitischen Hochschule "Wilhelm Pieck" in Berlin-Grünau, Klaus Wiegand, begann die politische Wende bereits im Jahre 1981.

1956 der NVA freiwillig beigetreten, hatte er in ihren Reihen eine Art Bilderbuchkarriere gemacht. Die DDR-Armee förderte sein Studium, das er als diplomierter Historiker an der Berliner Humboldt-Universität abschloß.

Die Stufenleiter führte nun nach Grünau, wo an der Militärpolitischen Hochschule Offiziere und Generäle auf ideologische Standfestigkeit getrimmt wurden. "Ich habe lange daran geglaubt, daß die DDR zu ihrem Überleben des militärischen Schutzes bedürfe und war ein der Sache des Sozialismus treu ergebener Offizier", schildert Wiegand seine frühere Haltung.

Die kam ins Wanken, als am 17. März 1981 die militärische Übung "Sojus 81" angesetzt wurde. Fassungslos starrte er damals auf einen Befehl, mit dem ganz offensichtlich eine militärische Lösung der polnischen Krise erwogen wurde. Danach erhielten zahlreiche polnische Divisionen die Anweisung, sich auf das Gebiet der DDR zu begeben, wofür "Austauschtruppen" der NVA auf polnischen Territorium operieren sollten.

"Mir fiel auf", so berichtet der Ex-Offizier,"daß gleiches auch an der polnischen Flanke zur ehemaligen CSSR sowie zur sowjetischen Grenze vorgesehen war. Polen sollte weitgehend von eigenen Truppen entblößt werden, die man dann in der DDR, der CSSR sowie der Sowjetunion zu isolieren gedachte."

Klaus Wiegand war entsetzt. Denn eine Verwirklichung dieses Planes hätte unter Umständen den Ausbruch des Dritten Weltkrieges bedeuten können. So begann er an der Militärpolitischen Hochschule offen dagegen zu opponieren. "Ich setzte auf das kritische Denken anderer Offiziere, wollte ihnen vor Augen führen, wohin diese Eskalation steuern würde."

Die bis zum 7. April 1981 durchgeführte Übung stellte jedoch erst eine Probe dar. Die militärische Führung der DDR "studierte" das Verhalten der polnischen Truppen, nachdem sich diese befehlsgemäß außerhalb ihrer Landesgrenzen begeben hatten. "Die schienen jedoch völlig arglos zu sein", entsinnt sich Klaus Wiegand. Doch als ein neuer Befehl mit der Bezeichnung "Askanier" wiederum das gleiche militärische Manöver einleiten sollte, hegte ich keine Zweifel mehr daran, daß es in Kürze zu einer Intervention Polens, "ähnlich der zur Unterdrückung des Prager Frühjahrs 1968 in der CSSR kommen sollte".

Der Oberstleutnant war aufs höchste erregt. Ungeachtet der Tatsache, daß auch an dieser Hochschule die Wände Ohren hatten, die sogenannte "Abteilung 2000", in NVA-Uniformen steckende Stasileute, allgegenwärtig waren, bezeichnete er diese Befehlsgebung als "verbrecherisch".

Dann überschlugen sich die Ereignisse förmlich. Der ehemalige Offizier erinnert sich: "Es war an einem Abend, da ich als diensthabender Offizier in der Hochschule eingesetzt war. Plötzlich öffnete sich die Tür zum Wachzimmer, eine militärische Streife trat ein. Mit eisigem Gesicht forderte mich der Kommandierende auf, meine Waffe abzugeben. Ich sei mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert."

Als Klaus Wiegand am nächsten Morgen zur gewohnten Stunde seinen Dienst an der Hochschule antreten wollte, war er zur Persona non grata geworden. Niemand grüßte ihn mehr. Offiziere, mit denen er über Jahre freundschaftlich verkehrt hatte, wandten die Gesichter ab, wenn sie ihm begegneten. Dann wurde über ihn das politische Scherbengericht veranstaltet. Maßgeblich daran beteiligt: Generalmajor Wunderlich, die Obersten Vinz, Geißler und Lange. Gestern noch seine Genossen und Offizierskameraden, jetzt die Vollstrecker eines bereits vorgefaßten Urteils.

Im unflätigsten Tone wurde er beschimpft, des Verrates an der Arbeiter- und Bauernmacht bezichtigt. "Ich kann nicht sagen, daß dies spurlos an mir vorüberging", meint Klaus Wiegand. "Obwohl ich nicht so schnell einzuschüchtern bin, war es für mich eine der schlimmsten Stunden meines Lebens. Denn in diesem Augenblick wurde mir klar, daß ich mich Jahrzehnte für eine Sache geopfert hatte, die solchen bedingungslosen Einsatz nicht wert gewesen war."

Die Untersuchungen dehnten sich auf die Offiziere seiner Kurse aus. Jeder der zu ihm in Kontakt gestanden hatte, wurde von der Stasi observiert. Es war ein Alptraum wie bei Kafka, denn obwohl er ständigen Verhören unterzogen wurde, man in seiner Wohnung das Unterste zu oberst kehrte, trug er noch immer die Uniform eines hohen NVA-Offiziers.

Indessen tauchte in der Militärpolitischen Hochschule Heinz Keßler auf, damals Generaloberst und Chef der Politischen Hauptverwaltung der Nationalen Volksarmee. Er überbrachte offiziell den entsprechenden Befehl des Ministers für Nationale Verteidigung, wie mit dem aufmüpfigen Offizier zu verfahren war.

Am 10. Juli 1981 wurde Oberstleutnant Klaus Wiegand in die Hochschule bestellt, wo ihm vor versammelten Stabsoffizieren des Lehrkörpers nach Verlesung des Befehls KM 61/47 die Schulterstücke von der Uniform gerissen wurden. Dann mußte er den Ehrendolch der NVA und sämtliche erhaltene militärischen Auszeichnungen ablegen. Ferner wurde ihm die Berechtigung entzogen, weiterhin als Hochschullehrer tätig zu sein. Schließlich erfolgte die eigentliche Degradierung zum einfachen Soldaten und der gleichzeitige Ausschluß aus der NVA.

Während in Polen am 13. Dezember 1981 General Jaruselski das Kriegsrecht verhängte und damit wohl auch dem drohenden Einmarsch "seiner Waffenbrüder" zuvorkam, suchte Klaus Wiegand monatelang vergeblich nach Arbeit. Wo er sich auch bewarb, die Ablehnung kam postwendend. An der Abfüllanlage des Getränkekombinates in Weißensee wurde er schließlich geduldet. Die Staatssicherheit ließ ihn jedoch nicht mehr aus ihrem Blickfeld. Vor jedem Staatsfeiertag mußte die Betriebsleitung dem MfS Mitteilung darüber machen, wo sich derzeit die verdächtige Person aufhalte.

Auch nach der politischen Wende im Herbst 1989 war die Führung der NVA zunächst nicht gewillt, sich für die Rehabilitierung des Offiziers einzusetzen. Am 20. November 1989 schrieb Klaus Wiegand an den damaligen Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz einen Brief, in welchem er die Geschehnisse des Jahres 1981 darlegte.

Die Antwort ließ auf kein Einlenken hoffen. Krenz gab dem geschaßten Offizier zu verstehen,"daß die gegen Sie verhängten Disziplinarmaßnahmen auf der Grundlage des damals geltenden Rechts erfolgten". Kein Wort der Entschuldigung, kein Wort des Bedauerns. Erst in der Ägide Eppelmanns als Verteidigungsminister in der nur noch kurz bestehenden DDR erfolgte die vollständige Rehabilitierung.

"Als ich das erste Mal nach mehr als neun Jahren wieder das Gebäude der Militärpolitischen Hochschule betrat, erlebte ich eine geradezu gespenstische Szene. Offiziere, die maßgeblich an dem Verfahren gegen mich beteiligt gewesen waren, traten jetzt auf mich zu, als ob nichts geschehen sei. ‘Na, Klaus, da bist du ja wieder’, wurde ich begrüßt. Ich schämte mich für ihre Erbärmlichkeit, jede Freude über die Rehabilitierung zerstob. So gab es dann für mich endgültig keine Rückkehr in diese Armee mehr, die ein Teil meines Lebens gewesen war."

Ein halbes Jahr später – am 3. Oktober 1990 – hörte die Nationale Volksarmee auf zu bestehen.


 
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