© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/99 13. August 1999


Günter Grass: Mein Jahrhundert. Ein Geschichtenbuch
Biedere Altherrenprosa
Doris Neujahr

Was wäre die anstehende Jahrhundertwende ohne das Buch von Günter Grass dazu! Tatsächlich hat der Großschriftsteller sich zum Großen Zapfenstreich etwas ausgedacht: "Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabei gewesen." Das klingt ungeheuer kompliziert von wegen Rimbauds "Ich ist ein anderer" und der hundertfach gesplitterten Erzählperspektive. Aber keine Angst, so schwierig ist der Text gar nicht, und alles, fast alles ist vorhersehbar!

Der Reigen der jeweils drei bis vier Druckseiten umfassenden Geschichten beginnt 1900 mit dem Bericht eines Freiwilligen aus Straubing, der vor seiner Einschiffung nach China, wo er den "Boxeraufstand" niederschlagen soll, der "Hunnenrede" Wilhelms II. lauscht. Er setzt sich fort mit der Story vom Siegeszug des Strohhuts in Deutschland (1901), einem Brief des Kaisers, der seinem (wegen der Neigung zu hübschen Eleven in Ungnade gefallenen) fürstlichen Freund Eulenburg im Stil des kleinen Moritz die deutsche Flottenpolitik erläutert (1911), und geht weiter mit dem Zeugenbericht eines Mitwissers des Rathenau-Attentats (1922), der aus mütterlichem Hörensagen gespeisten Eloge eines Danzigers (sic!) über die sagenhaften Goldenen Zwanziger in Berlin (1927) sowie der Erzählung eines Fließbandarbeiters in den nach amerikanischem Vorbild umstrukturierten Opel-Werken (1929). Hin und wieder taucht sogar Günter Grass persönlich auf, zum Beispiel als "schnauzbärtiger Schriftsteller, der sich an die Es-Pe-De verkauft hatte" (1968). Wat ham wa jelacht über soviel Selbstironie!

Aber egal, ob die Personen des Buches, Frauen und Männer, berlinern, ruhrpotteln, ob sie bayerisch, schlesisch, norddeutsch oder ostpreußisch sprechen, ob sie arm oder reich sind: Immer hört man Günter Grass dozieren, der beliebig statt weise geworden ist und dem zum Lauf der Welt nichts mehr einfällt. Und weil er das nicht wahrhaben will, betreibt er Mimikry und Camouflage, sogar in eigener Sache. Doch es hilft alles nichts: Die Polyphonie der Stimmen entpuppt sich schnell als fortgesetzter Roßtäuschertrick, der mit fortlaufender Leküre allenfalls zum Gähnen verführt!

Den meisten Raum widmet Grass den sogenannten kleinen Leuten, die man aber allesamt ganz schnell wieder vergißt, weil sie keine Konturen gewinnen. Im Inflationsjahr 1923 schlüpft der Rentner aus dem holsteinischen Wewelsfleth in das Dirndl einer Maid und seufzt: "Ach ja, Mama hat es gewiß nicht leicht gehabt." Von dieser Qualität ist nahezu der ganze Rest. Später kommen noch die Nazis, der Krieg, das Wirtschaftswunder, der Mauerbau, der Machtwechsel von CDU zur SPD, das Waldsterben, der Mauerfall und zum guten Ende, als Krönung des deutschen Jahrhunderts gewissermaßen, der Wahlsieg von Rot-Grün. So dümpelt das Buch auf dem Niveau der Bild-Serie "50 Deutsche Jahre" dahin, ohne auch nur annähernd so unterhaltsam zu sein. Weder ist es das Ärgernis, für das Grass-Gegner sich schon zähnebleckend präpariert hatten, noch die künstlerische oder politische Provokation, die von der Fan-Gemeinde ersehnt wurde. Und natürlich ist es kein Jahrhundertbuch, denn um das 20. Jahrhundert geht es überhaupt nicht. Um es mit seinen Schrecken und Abgründen erzählbar zu machen, hat Günter Grass (allem Anschein nach der neue Tarnname für Adalbert Stifter) es flugs in ein gemütliches 19. Jahrhundert verwandelt.

Das Verfahren dieses "Geschichtenbuchs" erinnert an das Prinzip der Malbücher für Kinder: Die Konturen der Bilder sind vorgegeben und nur noch mit Tusche zu füllen. Die Auswahl der Miniaturen ist einfallslos und folgt pedantisch den gängigen historiographischen Werken. Das Problem besteht nicht darin, daß wesentliche gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse fehlen, sondern daß sie unliterarisch, wie in einem Kompendium abgehakt werden. Grass hat keine Funken, keine Pointen aus seinem fleißig gesammelten Material geschlagen, keine unerwarteten Perspektiven auf die berichteten Jahre eröffnet, aus der sich ihr Charakter erschließt.

Die zeitgenössische Ignoranz etwa gegenüber dem 1912 beim Eislauf ertrunkenen Georg Heym faßt er in die Sätze: "Nichts über die innere Not unserer schon damals verlorenen Generation. Nichts über Heyms Gedichte." Treffender läßt sich die Banalität seines eigenen Textes nicht ausdrücken, denn nichts, gar nichts findet sich darin von den untergründigen Spannungen und Gefahren der Vorkriegszeit, die die Expressionisten so sensorisch wie ahnungsvoll aufnahmen, verdichteten, rausschrieen.

Den Ersten Weltkrieg versucht er in imaginären Caféhaus-Gesprächen zwischen Ernst Jünger und Erich Maria Remarque widerzuspiegeln. Sie erstrecken sich über fünf Texte, die den Jahren 1914 bis 1918 gewidmet sind. Bei dieser Gelegenheit entsteht, weil Grass sich endlich einmal ausbreiten kann, sowas wie Atmosphäre, allerdings kommt er auch hier über Stammtischgerede (Jünger schreibt der Kellnerin ins Autorenexemplar: "Für unser tapferes Vreneli") nicht hinaus. Zum bedeutungsschweren Zusammentreffen des jüdischen Jahrhundertdichters und KZ-Überlebenden Paul Celan mit Martin Heidegger (1967), der zum Holocaust jeden Kommentar verweigerte – was hätte man aus dieser Konstellation machen können, müssen! – weiß er ebenfalls nur die üblichen Platitüden mitzuteilen. Peinlich! Verschenkt auch die Szene mit Franz-Josef Strauß, dem DDR-Emissär Schalck-Golodkowski und dem Fleischfabrikanten und Strauß-Intimus März, diesen drei barocken Fleischbergen, die mit zwielichtigen Geschäften effektiv deutsche Nachkriegsgeschichte gestalteten. Was für ein Stoff, um die drei Wörter: deutsch – Nachkrieg – Geschichte, neu zu buchstabieren!

Grass hat einfach sein Genre verfehlt. Er ist nun mal kein Kurzgeschichtenerzähler wie beispielsweise Heinrich Böll. Umso mehr menschelt es, meistens aus der Sicht des legendären Otto Normalverbrauchers, der das, was die Eliten als Geschichte feiern, als Arbeit erlebt. Überhaupt, die einfachen Menschen! Sie dulden viel, haben das Herz auf dem rechten Fleck, sind irgendwie verstrickt in das Große, Ganze, Monströse, in die Politik, doch zum Schluß wird dann doch noch alles gut. "Und auf 2000 freu ich mich auch", heißt es auf der letzten Seite. Man kann es auch so sehen: Grass hat sich versöhnt mit dieser Bundesrepublik, behält sich das Recht auf gelegentliche Narreteien (siehe den kürzlichen Vergleich des deutschen Asylrechts mit den ethnischen Säuberungen) aber vor. Erfreulich für den Citoyen, tragisch für den Schriftsteller: In dem Moment, wo Oskar Mazerath erwachsen wird, hat er literarisch nichts mehr zu vermelden.

Eine einzige der hundert Miniaturen, die über Wolf Biermann, der im November 1976 nach einem Konzert in Köln aus der DDR ausgebürgert wurde, hat sich der Rezensentin eingeprägt. Am Abend vor seinem großen Auftritt vollführte Biermann einen kleinen in der Wohnung von Grass in Berlin-Friedenau. Alles, was Biermann in Köln an vorgeblich spontaner Rührung zeigte, war in Wahrheit durchkalkuliert: "(...) jeden Aufschrei gegen die Willkür der herrschenden Partei, jedes Hohnlachen, das ihm das volkseigene Spitzelwesen entlockte, jeden Schluchzer über den verratenen, von den führenden Genossen verratenen Kommunismus, jeden schrägen Akkord und schmerzgeborenen Krächzer geübt, bis zum Anflug beginnender Heiserkeit, bis in den Wortlaut des spontanen Versprechens, jeden Wimpernschlag, jede Clowns- und Leidensmiene, sag ich, geübt, seit Monaten, Jahren ... So reich an einstudierter Absicht war er. So sehr auf Treffsicherheit bedacht. Und so erprobt kam sein Mut über die Rampe ... Später, viel später, als die Mauer kippte, war er beleidigt, weil das ohne sein Zutun geschah." Das, in der Tat, mußte mal gesagt werden!

"Mein Jahrhundert" ist nicht provokant, nicht ärgerlich, es ist nicht einmal richtig mißlungen. Es bietet ganz überwiegend biedere, leicht konsumierbare Altherrenprosa. Verwundert steht man vor den traurigen Rudimenten einer lang zurückliegenden, genialen Erzählkunst. Stammten diese Geschichten nicht gerade von Grass, würde sich kein Mensch für sie interessieren.

 

Günter Grass: Mein Jahrhundert. Ein Geschichtenbuch. Steidl Verlag, Göttingen 1999, 379 S., 48 Mark (Die Ausgabe mit Aquarellen des Autors kostet 98 Mark)


 
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