© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/99 13. August 1999


Pankraz,
die Grillparty und der Hunger auf den Hunger

Die Regierung macht alles falsch, die Lage ist beschissen, aber unsere Stimmung ist ausgezeichnet." So beschreiben Meinungsumfragen die Gemütslage der Deutschen in diesem Sommer 1999. Ist das nur Galgenhumor, Tanz auf dem Vulkan, unverdrossene Bordkapelle auf sinkender "Titanic"? Die Gespräche bei den Grillpartys lassen etwas anderes vermuten. Das Publikum, so kommt heraus, interessiert sich einfach nicht mehr für die Spiele der Politik. Man ist eifrig dabei, sich mental und lebenspraktisch vollkommen von diesen Spielen abzukoppeln.

Und zum ersten Mal glaubt man – das ist das eigentliche Neue –, daß einem die Abkopplung auch ziemlich gut gelingen könne. Gewiß, die Politiker, so die allgemeine Überzeugung, werden fast über jeden von uns demnächst mancherlei Unheil ausschütten. Doch einem die Laune zu verderben vermögen sie nicht mehr. Man hat in den meisten Quartieren Reserven angelegt, die nötigenfalls zu mobilisieren wären. Und selbst wer seine Sach’ buchstäblich auf nichts gestellt, sieht sich deshalb noch keineswegs am Ende. Irgendwie wird es schon weitergehen, und zwar auf erträglichem, aushaltbarem Niveau.

Wohl am wichtigsten aber: Ein Mentalitätswandel hat stattgefunden, man will sich die Gegenwart nicht mehr durch verquere Zukunftsaussichten verdüstern lassen. Das ist das gewissermaßen Positive an der aktuellen Spaßgesellschaft. Es gilt das "carpe diem", das Auskosten des gelebten Augenblicks. Man ist nicht mehr geneigt, das Leben als einen bloßen Dauerlauf mit fester Zielvorgabe aufzufassen. Diskontinuität geht vor Kontinuität.

Aus solchem Wandel resultiert dann also die Gleichgültigkeit gegenüber den Zumutungen der Politik. Diese ist strukturell auf Dauerlauf angelegt, glaubt es wenigstens zu sein. Jeder, der in Bonn/Berlin etwas zu sagen hat, will immer irgendwie einen "Startschuß" geben, will irgendetwas "in Bewegung setzen". Die Gegenwart wird permanent abgewertet, selbst wenn sie noch so viele Glücksverheißungen offeriert.

Zur Zeit geht es in Bonn/Berlin eindeutig und zugegebenermaßen um Gegenwartsverschlechterung, man muß sparen, kürzen, wegnehmen, sich einschränken. Aber kein Politiker wagt, das Kind wirklich beim Namen zu nennen, alle brechen weiterhin unverdrossen auf zu "lichteren Höhen", "gerechteren Zuständen", "schlankerem Staat" und was dergleichen Epitheta mehr sind. Das äußerste, wozu sie sich gelegentlich aufraffen, ist die Aussage, daß es gälte, "das Erreichte zu sichern". Dabei verheddern sie sich in ihrer eigenen Rhetorik, wollen sichern, was sie doch dauernd abwerten, erhalten, was sie dauernd abschaffen.

In früheren Zeiten war das ganz anders. Perikles von Athen gruppierte seine Reden ehern um die Polis, die es so, wie sie war, zu erhalten gelte, und noch Bismarck sprach so. Sein revolutionärstes Projekt, die umfassende Sozialgesetzgebung im Deutschen Reich, wurde von ihm sorgfältig dargestellt nicht als Überwindung gegenwärtiger Zustände, sondern als notwendige Teilhabe aller Staatsgenossen an den Möglichkeiten der Gegenwart.

"Carpe diem" auch hier, statt "Hunger auf morgen". Der "Hunger auf morgen" war so etwas wie ein politischer Seiteneinsteiger, Kind der "innerweltlichen Askese" (Max Weber), wie sie seit der Reformation von den Calvinisten und Puritanern gepredigt wurde. "Der Mensch", erklärte damals Thomas Hobbes, "ist ein Tier, das Hunger auf den Hunger von morgen hat."

Hobbes, der Antipuritaner, hielt diesen Hunger auf den Hunger von morgen allerdings für eine eminente soziale Gefahr, für das "wölfische" Erbteil im Menschen, das durch den "Leviathan", den absoluten Souverän, gebändigt und im Zaume gehalten werden müsse. Der Leviathan war der einzige vernünftige Politiker, den er sich vorstellen konnte; alle übrigen "Politiker" waren in seinen Augen im Grunde überflüssig wie ein Kropf, üble Hetzer und Morgenredner, die das Gemeinwesen nur unglücklich machten und letztlich ins Verderben führten.

So weit möchte Pankraz natürlich nicht gehen. Ein Gemeinwesen besteht aus vielen Interessenten und Mitdiskutierern, die kompetente Stimmen brauchen, und wer anders als die Politiker sollte denn solche Stimmen zur Verfügung stellen? Es würde aber gewiß nicht schaden, wenn in jedem einzelnen modernen Politiker ein kleiner Leviathan regsam wäre, der stets das Ganze und die lebendige Gegenwart im Auge behielte und seine Reden an diesem Ganzen und an dieser Gegenwart ausrichtete.

Nur ein solcher Politiker könnte die Kluft wieder überbrücken, die sich jetzt bei uns, den Umfragen zufolge, zwischen als miserabel erkannter Politik einerseits und dennoch vergnügter Stimmungslage andererseits aufgetan hat. Überbrückt aber (noch besser: zugeschüttet) werden sollte die Kluft. Sie ist nämlich brandgefährlich, vergnügte Stimmung hin oder her, auch gute Kerle können hineinfallen.

Kaum etwas ist so schwankend wie Stimmungen, nicht einmal atlantisches Sommerwetter, mit dem sie noch am ehesten zu vergleichen sind. "Bloßen Stimmungen", sagt Wilhelm von Humboldt, der vielleicht am genauesten über das Phänomen nachgedacht hat, "muß man mißtrauen. Denn wir haben keine Gewalt über sie, sind ihren Veränderungen fast wehrlos ausgeliefert, und am Ende verdunkeln sie unser Gemüt."

"Nicht nur unser Gemüt", möchte Pankraz hinzufügen. Eine kleine Drehung der Politik weiter in die eingeschlagene, als falsch empfundene Richtung, und das Stimmungswetter schlägt unter Umständen vollständig um, aus Heiterkeit wird Supergewitter, und es hagelt nur so von Diskontinuitäten. Dann könnte es leicht passieren, daß Gegenwart wie Zukunft, "Carpe diem" wie "Hunger auf Hunger", den Bach hinuntergehen.


 
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