© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/99 13. August 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Mehr Rücksicht
Karl Heinzen

Die rot-grüne Regierung taumelt, aber sie kann nicht stürzen. Auch die parlamentarische Demokratie zieht die Ordnung der Freiheit vor. Was die Menschen inmitten einer Legislaturperiode über die Politiker zu denken vorgeben, ist irrelevant. Entscheidend ist die Zufallsstimmung am Wahltag. Diese allerdings könnte in der Tat auch gegen die am weitesten rechts stehende, sozialdemokratisch dominierte Bundesregierung entscheiden, die wir seit Helmut Schmidts Zeiten hatten. Es ist also nicht ganz abwegig, sich Gedanken über neue Seelenlandschaften zu machen – zumal, wenn man, wie die PDS, außer der Lebenssinn stiftenden Beschäftigungstherapie für Rentner und der sadistischen Desillusionierung der wenigen verbliebenen DDR-Gläubigen nicht viel zu tun hat.

Die "zwölf Thesen für eine demokratisch-sozialistische Politik am Ende des Jahrhunderts", die Gregor Gysi getextet hat, testen nun die Vermutung, daß die friedliche Revolution vom 28. September 1998 möglicherweise so viele mentale Opfer bei den Siegern gekostet hat, daß sich jemand um sie kümmern sollte. Die Wunden sitzen tief: Man kann es einem Gerhard Schröder zwar kaum übelnehmen, daß er die Träume seiner Anhänger nicht Wirklichkeit werden läßt. Man kann es sogar hinnehmen, daß er sein eigenes Denken mit seinem von lauter Tatsachen diktierten Handeln versöhnt. Man muß allerdings einschreiten, wenn er seinen privaten Frieden mit den Verhältnissen auch noch all jenen als Programm auferlegen will, die als Linke weniger Einfluß nehmen, sondern sich vor allem wohl fühlen möchten.

Hier nun erhebt Gregor Gysi den Finger und erinnert daran, daß eine Linke, die nur auf die Vernunft zu setzen vermag, nicht bloß zu Fatalismus und Fahnenflucht neigt, sondern vor allem ohne Not all die Vorurteile negiert, die in diesem Milieu erst gemeinschaftsbildend sind. In diesem Sinne zeigt er sogar Respekt für eine Einstellung, die sich eine lebenswerte Zukunft nur durch eine grundsätzliche Lösung aller fundamentalen Menschheitsprobleme im Weltmaßstab verspricht. Frieden, Gerechtigkeit, Gleichstellung der Geschlechter, Freiheit und so weiter: Es lohnt sich eigentlich nicht, über anderes zu sprechen, und es ist blauäugig, andere als radikale Lösungen anbieten zu wollen. Hier nun muß allerdings der demokratische Sozialismus widersprechen, und zwar im Interesse derjenigen, an die er sich wendet: Das Bewußtsein der globalen Krise will ernstgenommen, aber nicht leichtfertig in tagespolitischen Aktivismus umgesetzt werden. Undifferenzierte Eingriffe in eine immer unübersichtlicher werdende Eigentumsordnung sind abzulehnen. Der Appell, die "Dominanz der Kapitalverwertung" durch eine solche "sozialer, kultureller und ökologischer" Zielvorstellungen zu ersetzen, wirkt beruhigend: Damit wird genau jene Klientel als "Gegenmacht" umgarnt, die mit Schröder-Blair Umschulungsmaßnahmen assoziiert.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen