© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/99 13. August 1999


Kolumne
Regelverletzung
von Klaus Motschmann

Auf welchen gemeinsamen Nenner lassen sich die Auseinandersetzungen um den Krieg im Kosovo und das Ladenschlußgesetz, um das russische Beutekunstgesetz und um den Schwangerschaftsabbruch, um die Einführung der Rechtschreibreform und um Rechtsextremismus in Deutschland bringen?

Es sind die jüngsten eindrucksvollen Belege für eine um sich greifende Mißachtung geltenden Rechts: sowohl des Völkerrechts als auch des Staatsrechts, sowohl des Grundgesetzes als auch allgemeines Gesetze, sowohl internationaler Vereinbarungen als auch einschlägiger Gerichtsurteile. Das Recht steht ganz offenkundig zur Disposition politischer und wirtschaftlicher Interessen. Es verliert auf diese Weise nicht nur zusehends seine ordnungstiftende Funktion in einer pluralistischen Gesellschaft, womit die Kritik aller totalitären Ideologien und Bewegungen am sog. bürgerlichen Rechtsstaat überzeugend bestätigt wird.

Im Gegenteil! Diese Entwicklung trägt zur weiteren Erosion unserer gesellschaftlichen und politischen Ordnungen bei und führt zu immer weiterer Orientierungslosigkeit. Entscheidend für diesen Sachverhalt ist die Tatsache, und hier liegt der wesentliche Unterscheid zum Rechtsverständnis totalitärer Ideologen, daß die Gültigkeit der bestehenden rechtlichen Normen und Ordnungen nicht bestritten wird, sondern nur die Verbindlichkeit für das eigene Verhalten. Das pädagogische Grundprinzip der Emanzipation des Menschen von allen "fremdbestimmten" Zwängen, das Recht auf ein "selbstbestimmtes" Leben, die eindringlichen Warnungen vor einer "Erziehung zur Anpassung" fordern geradezu dazu heraus, die bestehenden regeln der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Ordnungen anzuerkennen, um dann dagegen verstoßen zu können. Die ungezählten Theorien "abweichenden Verhaltens" lassen sich logischerweise nur verwirklichen, wenn es ein Normengefüge gibt, von dem man abweichen kann. Das weithin als "pädagogisch wertvoll" bejahte Prinzip der "kreativen Regelverletzung", wie man selbst schwere Rechtsbrüche zu umschreiben beliebte, setzt selbstverständlich voraus, daß es Regeln gibt, die man verletzen kann.

Es mehren sich die Anzeichen, daß die Risiken und Nebenwirkungen dieses politischen und gesellschaftlichen Gestaltungsprinzips immer deutlicher erkannt werden und die Bereitschaft zu einem Umdenken wächst. Diese Ansätze können sich jedoch nicht entfalten, wenn Beispiele der genannten Art widerspruchslos hingenommen, womöglich sogar noch gerechtfertigt werden und sich der Rechtsstaat vorführen läßt. Wo bleiben die vielzitierten "Lehren der Geschichte"?

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politiische Wissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin


 
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