© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/99 30. Juli / 06. August 1999


Das türkische Risiko
von Heinrich Lummer

ei aller erkennbaren Kontinuität in der deutschen Außenpolitik nach dem Regierungswechsel in Bonn scheint sich dies im Verhältnis zur Türkei nicht zu bestätigen. Sowohl die Bundesregierung als auch die finnische Präsidentschaft haben Änderungen signalisiert, die die Aufnahme der Türkei in die Liste der Beitrittskandidaten vorsehen. Günter Verheugen hat einerseits geäußert, die "Zugehörigkeit zur christlichen Kultursphäre" sei keine Vorbedingung für den Beitritt, und andererseits würde die Hinrichtung Öcalans die Chancen der Türkei "für geraume Zeit zurückwerfen". Auch Außenminister Fischer hat bei seinem jüngsten Besuch die Hoffnung der Türkei genährt. Daher erscheint es geboten, die Frage des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union (EU) erneut zu erörtern.

Schon seit langem diskutiert man innerhalb der Europäischen Union darüber, ob die Türkei auf absehbare Zeit als geeignetes Mitglied der Union in Betracht kommt. Die Union hatte sich bisher vor einer klaren Antwort gedrückt. Auch derzeit halten die Eiertänze an. Hat die Türkei eine Perspektive, EU- Mitglied zu werden, oder ist sie ein Beitrittskandidat?

Die Enttäuschung in der Türkei über die Nichtaufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union ist verständlich. Allzulange sind auf beiden Seiten falsche Erwartungshaltungen gepflegt worden. Dies hat Verheugen nun mit dem Hinweis auf den Fall Öcalan fortgesetzt. Als wäre der Fall Öcalan oder auch das Problem der Menschenrechte allein entscheidend für die Beantwortung der Beitrittsfrage. Für die Zurückhaltung der EU gibt es jedoch gute Gründe, die jeder objektive Beobachter akzeptieren muß. Leider sind Sachlichkeit und Objektivität keine Merkmale türkischer Politik.

Die Reaktionen in der Türkei auf die Entscheidung der Europäischen Union sind zum Teil irrational, töricht, falsch und kontraproduktiv. Ministerpräsident Ecevit legte in einem Gespräch mit dem Londoner Daily Telegraph eindeutig erkennbare Symptome von Paranoia an den Tag: Italien "und andere Länder" unterstützten kurdische Terroristen mit der geheimen Absicht, die Modernisierung der Türkei zu verzögern und die Wirtschaft der Türkei zu verkrüppeln.

Einige europäische Hauptstädte litten an "Islamophobie", meinte Ecevit weiter, und er stritt ab, daß die Menschenrechtslage in seinem Lande ein Hindernis für die EU-Mitgliedschaft sein könne. Die Türkei sei in den letzten 15 Jahren mit einem sehr ernsthaften "separatistischen Terrorismus" konfrontiert gewesen, aber wenn einige westliche Regierungen aufgehört hätten, die PKK zu ermuntern, wäre der Demokratisierungsvorgang viel weiter fortgeschritten. Also nicht die Unterdrückung der kurdischen Minderheit ist schuld an der entstandenen Lage, sondern "gewisse westliche Regierungen...". Wie bekannt die Formel doch klingt!

Weiter meint Ecevit: "Wir sind ein Teil Europas – geschichtlich, geographisch und in gewissem Maße auch kulturell, und wir sind viel weiter entwickelt als gewisse Länder, vor denen sich die Tür der Mitgliedschaft geöffnet hat". (Zum Vergleich: Das Bruttosozialprodukt Griechenlands im Jahr 1996 betrug pro Kopf 11.460 US-Dollar, das der Türkei 2.830 US-Dollar; sogar das Portugals belief sich 1996 auf 10.160 US-Dollar. Wie kann man sich vor unbestreitbaren sachlichen Zahlen derart verblendet erweisen!).

Die Türkei werde weiterhin mit den Vorurteilen derjenigen konfrontiert, die an das kleine Europa-Modell des Jacques Delors und des Helmut Kohl glauben, daß nämlich die EU nicht über die Grenzen des Christentums hinaus expandieren sollte. "Es ist kein Geheimnis, daß einige in Westeuropa die EU als eine christliche Institution betrachten. Dies ist eine anachronistische und unrealistische Verhaltensweise", meinte Ecevit schließlich. Solche Äußerungen signalisieren eine beachtliche nationalistische Verblendung und Arroganz.

Es gibt keinen Grund für ein schlechtes Gewissen der Europäischen Union oder insbesondere der Deutschen. Dies gilt auch gegenüber den Vereinigten Staaten. Wenn sich die amerikanische Außenpolitik derzeit beflissen an die türkische Linie annähert und die Länder der Europäischen Union ständig ermahnt, die Türkei als Mitglied aufzunehmen, dann sollte nicht übersehen werden, daß dies nur deshalb geschieht, weil die USA damit eigene geostrategische Interessen vertreten. Die Position der USA in der Türkei erklärt sich aus ihrem Interesse am Öl, am Bereich des Golfes und des Kaspischen Meeres und den israelischen Interessen. Infolge der sinkenden Akzeptanz der USA in den arabischen Ländern und der Labilität dieser Regime, erscheint die Türkei als stabiler und verläßlicher Partner. Den Amerikanern ist es offenbar gleichgültig, ob eine millionenfache Einwanderung von Türken nach Deutschland im Anschluß an die Aufnahme in die Europäische Union erfolgt. Offenbar sind sie auch bereit zu akzeptieren, daß in der Türkei das Militär und nicht eine Zivilregierung das letzte Wort hat. Von Menschenrechten ganz zu schweigen. Hier stimmen europäische und amerikanische Interessen eben nicht überein. Gelassen abwarten, bis sich bessere Einsichten durchsetzen, sollte die Devise sein. Die Union hat keine Veranlassung, bestehende Beschlüsse kurzfristig zu revidieren. Und einem Verbündeten ist man eine klare Antwort schuldig.

Dabei war mehr oder weniger der Eindruck entstanden, wenn denn nur die Menschenrechtsfrage in der Türkei einigermaßen befriedigend beantwortet werde, sei der Weg für den Beitritt offen. Die Türkei jedoch muß, unbeschadet einer möglichen Mitgliedschaft in der Gemeinschaft, die Verbesserung der Menschenrechtslage erreichen. Das ist sie in erster Linie sich selbst und den Menschen schuldig und nicht Europäischen Gemeinschaft. Zweifellos ist die Einhaltung der Menschenrechte eine wichtige Voraussetzung für den Beitritt des Landes, aber keineswegs die entscheidende Bedingung.

In der Türkei selbst wurde schon die Aufnahme in die Zollunion und nun die Vollmitgliedschaft als Voraussetzung dafür gesehen, daß der Weg der Türkei in den Fundamentalismus und Islamismus vermieden werden könne. Die Krise des Kemalismus in der Türkei ist durch die Mitgliedschaft in der Nato und Zollunion nicht verhindert worden. Auch die Vollmitgliedschaft in der EU würde daran nichts ändern. Die Hoffnung, die Türkei werde durch eine bloße Mitgliedschaft in der Union ihre Probleme lösen, ist ein Irrtum. Das heißt: Die mögliche Mitgliedschaft in der EU darf nicht für den Zweck instrumentalisiert werden, die inneren Probleme der Türkei zu lösen. Nicht die Einbeziehung der Türkei in die Europäische Union wird die Türkei von ihren Problemen befreien, sondern die Türkei muß ihre Probleme lösen, ehe sie Mitglied werden kann. Auch die Vereinigten Staaten sind hier immer noch geneigt, die Dinge auf den Kopf zu stellen. In einer Ausarbeitung des Washingtoner Instituts für Nahost-Politik vom 20. November 1998 heißt es aus der Feder von Alan Makovsky: "Die beste Hoffnung auf einen Einfluß der EU auf die Kurdenfrage der Türkei, ist die von der EU bisher verweigerte Einbindung der Türkei als Kandidat für die Vollmitgliedschaft und die detaillierte Diskussion ihrer Kriterien."

Da die USA nun Druck auf die Europäische Union ausüben, die Türkei als Vollmitglied aufzunehmen, scheint das Argument jedenfalls dort auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein, die Türkei müsse am europäischen Wesen genesen. Das ist äußerst bedauerlich und macht deutlich, daß die Vereinigten Staaten offenbar die Bedeutung des Themas für Europa nicht begreifen. Sie haben offensichtlich wenig Verständnis für die Gefährdung der europäischen Identität durch eine Masseneinwanderung von Muslimen nach Europa. Es ist jedenfalls an der Zeit deutlich zu sagen, daß die Türkei in der Europäischen Union in absehbarer Zeit keinen Platz hat. Die Frage der Beitrittsperspektive ist bereits durch den Assoziierungsvertrag beantwortet. Daran muß sich nichts ändern. Für die absehbare Zukunft spricht alles dafür, mit der Türkei zusammenzuarbeiten, sie der EU näher zu bringen. Nichts spricht dafür, sie als Vollmitglied in die Union aufzunehmen. Die Gründe sind offenkundig:

1. Eine Aufnahme in die Europäische Ünion würde über kurz oder lang zu einer Freizügigkeit mit einer millionenfachen Einwanderung von türkischen Muslimen nach Europa führen. Es mag möglich sein, die Freizügigkeit im Vertragstext um einige Jahre hinaus zu zögern. Einerseits kann diese Frist nicht zu lang sein, andererseits wird man in der Praxis Einreisende aus einem Mitgliedsland nicht zurückweisen können. Eine millionenfache Zuwanderung müßte die Probleme auf den Arbeitsmärkten massiv verstärken. Deshalb ist ein Land mit hohem Bevölkerungswachstum, hoher Arbeitslosigkeit und relativ niedrigem Lebensstandard kein geeigneter Beitrittskandidat. Die negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt werden daurch verstärkt, daß die türkische Regierung bewußt und gewollt die Instrumentalisierung der in Deutschland lebenden Türken betreibt. Sowohl im Vorfeld der Bundestagswahlen als auch im Zusammenhang mit dem Öcalan-Konflikt ist dies deutlich geworden. Die türkische Regierung will die in Europa und insbesondere die in Deutschland lebenden Türken dazu benutzen, die deutsche Innenpolitik zu beeinflussen. Das widerspricht eindeutig dem Ziel der Integration. Nur von diesem Ziel her versteht man auch die Haltung der türkischen Regierung zur Frage der Staatsangehörigkeit. Trotz der Reformen Atatürks ist die Türkei ein islamisches Land geblieben. Die massive Zuwanderung von Muslimen wäre auch geeignet, die sozialen Spannungen in Deutschland und Europa zu erhöhen. Die Türkei ist heute faktisch ein rein muslimisches Land und insofern homogen. Sie hat sich auf manchmal böse, zuweilen subtil listige Art der Christen und anderer Gläubigen in der Türkei entledigt. Ein Beispiel für religiöse Toleranz bietet sie bis heute nicht. Für Europa jedenfalls wäre eine Masseneinwanderung von Muslimen in relativ kurzer Zeit eine schwere soziale Herausforderung, die sich Europa nicht zumuten sollte.

2. Die wirtschaftliche Lage der Türkei ist derzeit und für absehbare Zeit so desolat, daß eine Aufnahme zur Schwächung der Gemeinschaft führen müßte. Die Inflation ist seit Jahren erheblich. Sie lag und liegt zwischen 50 und 100 Prozent. Die Privatisierung ist unzulänglich. Der Staat ist hochgradig verschuldet. Die Korruption ist beachtlich. Mitglieder der Regierung und der Behörden sind stark involviert. Die Art und Weise, wie zum Beispiel der Sasurluk-Vorgang behandelt wurde, spricht Bände. Die Unzulänglichkeit und Unwilligkeit der Türkei, diese Probleme zu lösen, ist demnach offenkundig.

3. Die Verletzungen der Menschenrechte und die ungelöste Kurdenfrage lassen die Türkei nicht als geeignetes Mitglied der Europäischen Union erscheinen. Seit Jahrzehnten haben alle Ministerpräsidenten Besserung versprochen und in der Tat minimale Schritte geleistet. Zu einer Lösung des Problems haben diese aber allesamt nicht geführt. Folter, das Verschwindenlassen von Personen unter staatlicher Beteiligung, die Verweigerung, Kurden als Volksgruppe mit entsprechenden Rechten zur Kenntnis zu nehmen, und anderes mehr machen die Türkei nach wie vor zu einem Staat, der es mit den Menschenrechten nicht ausreichend ernst meint.

4. Die Türkei sieht sich gern als funktionierende parlamentarische Demokratie. Dies kann mit gutem Grund bezweifelt werden. Zwar ist der bestimmende Einfluß des Militärs nicht klar gesetzlich festgelegt, aber die Armee hat keinen Zweifel daran gelassen, daß sie sich als Wahrer des Kemalismus versteht. Zur Wahrung desselben mischt sie sich auch des öfteren in die Politik ein. Nicht nur die Regierung Erbakan wurde ein Opfer, sondern auch in vielen Einzelentscheidungen konnte die bestimmende Rolle des Nationalen Sicherheitsrates nachgewiesen werden. Man darf sich der Bemerkung Carl Schmitts erinnern: Souverän sei der, der über den Ausnahmezustand verfügt. Dies tut in der Türkei die Armee – und schon mancher Ministerpräsident ist nach großen Ankündigungen kleinlaut aus dem Nationalen Sicherheitsrat herausgekommen. Kurzum: Die Rolle des Militärs in der Türkei läßt sich mit den Grundsätzen einer parlamentarischen Demokratie nicht vereinbaren. Dazu Joachim Widmann in der Welt vom 10. Juli 1999: "Als Rückgrat des Staates, als Garant für den republikanischen, laizistischen Geist des Gemeinwesens wählte Kemal die Armee. Dafür mag deren modern-funktionale Struktur gleich nach dem Ende des korrupten Osmanenreiches ein gutes Argument gewesen sein. Heute aber ist die Türkei durch die Stellung der Armee eine latente Militärdiktatur."

5. Durch eine Aufnahme würde sich die Europäische Union zusätzlich mit den Konflikten der Türkei und Griechenlands in der Ägäis und in Zypern belasten. Beide Länder haben bisher weder Kraft noch Fähigkeit besessen, diese Konflikte zu lösen.

Natürlich kann es nicht das Ziel der EU sein, die Türkei von Europa fernzuhalten. Tatsächlich haben wir Grund zur Zusammenarbeit. Dies drückt sich in einer hochgradigen vertraglichen Verflechtung aus. Es steht fest, daß eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union auf absehbare Zeit weder möglich noch wünschenswert ist.

 

Heinrich Lummer, ehemaliger Innensenator und Bürgermeister von Berlin, war bis 1998 CDU-Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Auswärtigen Ausschuß des Parlaments.


 
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