© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/99 30. Juli / 06. August 1999


CD: Pop
Natürlichkeit
Peter Boßdorf

Wann geriet das Wissen um die Häßlichkeit, zu der Menschen fähig sind, in Vergessenheit? Wer die schönen alten Bilder von den großen Pop-Events der sechziger bis achtziger Jahre, von Isle of Man bis Bonn-Hofgarten, Revue passieren läßt, sieht, daß es unseren Altvorderen nicht nur präsent gewesen sein muß, es war ihnen in ihrem Wahrheitsfanatismus zudem ein Bedürfnis, selbst davon Zeugnis abzulegen. Absurder Haarwuchs im Gesicht sowie an Rumpf und Beinen, asymmetrische Höcker, Teenagerorangenhäute, schweinsfarbene Pigmentierung, notdürftig umhäutete Skelette, prähippokratische Gebisse: In diesen Jahren wurden Korrekturen am Menschenbild vorgenommen, die eigentlich irreparabel sind. Gegen das, was die Natur bietet, kommt der artifizielle Horror nicht an: Ein Frank Zappa in seiner klassischen Phase läßt noch heute nachvollziehen, daß beispielsweise Marilyn Manson nicht einmal schrill, sondern wahrscheinlich bloß ein verzweifelter Popper ist.

Das anthropologische Bewußtsein, welches eine derartige Erkenntnis möglich macht, wird durch Phänomene wie Knorkator geschärft. Dabei handelt es sich um drei in der Hauptstadt lebende Philosophen, die einen praxisorientierten biologischen Materialismus verkörpern, eine Bejahung des Lebens, wie es nun einmal ist. Die Jahre unserer Existenz hienieden sind zu kurz und unsere physiologischen Bedürfnisse zu drängend, als daß wir uns an ästhetische Ideale verschwenden sollten. Knorkator aber geht keine Umwege, sondern immer in medias res. Auf der aktuellen CD "Hasenchartbreaker" (Mercury Records) dominieren Themen aus der Ernährung, der Verdauung und ihrer Folgen, der Körperpflege und des Triebes.

Der Zugriff ist keineswegs vulgärindividualistisch: Man ist durchaus in der Lage, soziale und soziokulturelle Phänomene zu erkennen und auf den Punkt zu bringen. Zentrale Topoi der neuen Romantik, wie etwa die beliebte Einsamkeit oder das Dunkle, werden neu akzentuiert. Musikalisch konzentriert sich Knorkator darauf, herauszuarbeiten, mit wie wenig künstlerischen Mitteln einige relevante und pekuniär lohnenswerte zeitgenössische Stilrichtungen auszukommen vermögen. Ein besonderes Aufklärungsinteresse scheint die Musiker dabei mit der sogenannten Neuen Deutschen Härte zu verketten: Wer an Knorkator gerät, ist für Rammstein wohl auf Dauer verloren.

Ganz ohne Positionierung scheinen hingegen unterdessen Die Sterne auszukommen. "wo ist hier" (LADO/ Sony) stellt ihre neue CD so richtig nachdenklich in den unbekannten Raum – nicht einmal auf ein Fragezeichen wollte man sich festlegen. Immer noch verstehen sie es recht gut, platte Ergebnisse alltäglicher Gelegenheitsreflexion in eine so kurze Form zu bringen, daß der Eindruck entstehen könnte, es hier mit perlenden Assoziationen zu tun zu haben. Da wird so richtig sensibel und wach beobachtet und immerzu aus der Warte einer sympathisch vorgetäuschten Naivität eine philosophische Pointe nach der anderen fabriziert. Wenn diese vier gescheiten, jungen Herren nicht gerade sängen, würden sie sich bestimmt schon bald habilitieren!

In ihrer Verstandesarbeit haben sich Die Sterne aber verausgabt, ihre Musik ist müde. Sie sind nicht einmal mehr in der Lage, an sich selbst anzuknüpfen. Dort aber, wo der Sound für einen ganz kurzen Moment noch gelingt, überzeugen sie nur als Spliff-Imitatoren. Ihre Mission hat sich als die Rehabilitierung der Langeweile entpuppt. Sie sind am Ziel.


 
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