© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/99 23. Juli 1999


Europäische Identität
von Brigitte Sob

Wenn Politiker vom "kommenden Jahrhundert Europas" und vom "europäischen Bewußtsein" sprechen, ist die Frage zu stellen, wie der politische Raum Europas zu bestimmen ist und worin europäisches Bewußtsein denn gründet. Die Philosophen des deutschen Idealismus, Kant, Fichte, Schelling und Hegel, vertraten die These, daß Bewußtsein Identität voraussetze. Ohne Selbstbewußtsein keine Identität, lautet die tiefe Einsicht auf eine Kurzformel gebracht.

Was die Philosophie des deutschen Idealismus unter Bewußtsein und Identität versteht, ist keine empirische Kategorie, welche numerisch aufgezählt werden kann, es hat viel mehr mit Reflexion bzw. Selbstreflexion zu tun. "Die Fragen der europäischen Identität und der Grenzen Europas treten im politischen Wettlauf um Geld und Macht allzu sehr in den Hintergrund", schreibt Werner Weidenfeld in einem Beitrag aus dem Jahr 1997.

Bis auf den heutigen Tag scheint sich an dieser Feststellung nicht viel geändert zu haben. Nicht nur die Frage, worin denn eigentlich europäische Identität besteht, wird kaum (durchdacht) diskutiert, wiewohl es an Worthülsen zu diesem Thema nicht fehlt, sondern auch die politische Zukunft Europas kann keineswegs als gesichert gelten: Für dieses Europa gibt es auch an der Jahrtausendwende keine allgemein anerkannten Zielvorstellungen und Perspektiven. Die entscheidende Begründung für die europäische Einigung Ende der vierziger/Anfang der fünfziger Jahre war nach zwei verheerenden europäischen Kriegen, welche sich zu Weltkriegen ausweiteten, die Kriegsverhinderung. Pate der europäischen Westintegration war jedoch ebenso von Anfang an der "Kalte Krieg."

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme und dem Wegfall der politischen Teilung Europas stellt sich nunmehr die Europa-Frage neu: Was ist Europa? Zu trennen sind diesbezüglich politische Fragen von kulturellen, und hier wird es kompliziert: Es gibt kein Europa "an sich", sondern nur ein Europa "für sich" – könnte man in Rückbezug auf die Philosophie des deutschen Idealismus formulieren, dies bedeutet nichts anderes, als daß Europa in den Köpfen der Menschen und in ihrem politischen Willen existiert, im Denken und Wollen der "Europäer".

Europa ist ein Problem des Selbstbewußtseins. Schon im Gegensatz zu anderen Erdteilen ist Europa keine geographische Einheit, welche sich definitiv festlegen läßt. Seine tektonische sowie morphologische Beschaffenheit macht Europa nicht zum selbständigen Kontinent.

Oscar Peschel verweist darauf, daß – aus der Sicht des Geographen – Europa unter die Kontinente gekommen ist wie Pilatus ins Credo. Alexander von Humboldt betrachtete Europa nur als halbinselförmige Verlängerung von Asien nach Westen, als er in seinem "Entwurf einer physischen Weltbeschreibung" aus dem Jahr 1845 folgendes schrieb: "Wie das milde jahreszeitengleichere Küstenklima der Halbinsel Bretagne sich zum winterkälteren und sommerheißeren Klima der übrigen kompakten Ländermasse von Frankreich verhält, so verhält sich gewissermaßen Europa zum großen Festland von Asien, dessen westliche Halbinsel es bildet." Humboldt hat hier eine "Gretchenfrage" europäischer Identität angesprochen: Nur an drei Seiten besitzt Europa natürliche Grenzen vom Meer her. Offen – und daher auch bis heute politisch problematisch – ist Europas Grenze nach Osten hin. Die Geschichte belegt, daß diese Grenze aus geographischer Sicht eine absolut willkürliche ist: Die Griechen bezeichneten ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. die westlichen Küstengebiete der Ägäis und des Schwarzen Meeres als "Europa", während die Gebiete östlich der Ägäis als "Asien", jene südlich des Mittelmeeres als "Libyen" benannt wurden. Zeitweilig zogen die Griechen den Don (Tanais), aber auch den Rion (Phasis) als Ostgrenze Europas heran.

Die Festlegung des Urals als geographische Grenze Europas setzte sich erst ab dem 18. Jahrhundert durch und wird seither als Konvention beibehalten. Das geographische Problem der Festlegung europäischer Grenzziehung hat eine politische Entsprechung: Das Problem heißt Rußland. "Doch wie will man eine Grenze ziehen, in der das Land Tolstois und Dostojewskijs keine Heimat fände?" schreibt der Politologe Jean Marie Guehenno. Die jahrtausendlange Feindschaft zwischen Rom und Byzanz, Orthodoxie und römisch-katholisch bzw. evangelisch geprägtem "Westrom" hat Brüche im europäischen Bewußtsein bewirkt, welche erst jetzt wieder zum Tragen kommen. Erleben wir also nunmehr ein "Déjà-vu", bedingt durch religiöse Schismen, welche durch ideologische Gegensätze nur überlagert wurden?

Wie nachhaltig diese zu sein scheinen, belegt nicht nur der Umstand, daß nur ein Land des ehemaligen "Ostroms", nämlich Griechenland, EU-Mitglied ist und kein weiterer Staat "Ostroms" auf der unmittelbaren Warteliste der EU steht, sondern auch die Tatsache, daß nunmehr mit längst überwunden geglaubten religiösen Gegensätzen Ausgangspunkte für Theoriebildungen vorgenommen werden: Samuel Huntingtons "Kampf der Kulturen" steht diesbezüglich an vorderster Front. Huntington bezeichnet die "Orthodoxie" als eigenen Kulturkreis, Rußland als ihren "Kernstaat." In der Tat haben in den letzten 1000 Jahren europäischer Geschichte Rußland und das übrige "Europa" ein seltsames Beziehungsgeflecht von zentrifugalen und zentripedalen Elementen durchlebt.

Dieses außerordentlich spannungsgeladene Verhältnis ist bis heute nicht gelöst. Wer von europäischer Identität spricht, wird an Rußland seine Nagelprobe finden – aber auch an einem zweiten Staat: der Türkei. Die Türkei hat ein Assoziationsabkommen mit der EU, türkischerseits war die Enttäuschung nach dem Luxemburger EU-Gipfel groß, nicht auf die Beitrittskandidatenliste aufgenommen worden zu sein. Wird der EU-Beitritt der Türkei zumindest diskutiert, dann muß auch das Problem Rußland gestellt werden, wenn von Identität und Kultur als "europäischem Bindeglied" gesprochen wird.

Nun liegen die politischen Probleme, die innenpolitische Situation Rußlands, seine wirtschaftlichen Schwierigkeiten und seine unermeßliche Größe klar auf der Hand; wer die Behauptung wagt, daß Rußland sehr wohl ein europäisches Land sei – von seinen Menschen, seiner Geschichte und seiner Kultur her –, wird bestenfalls als versponnener Romantiker bezeichnet. Aufgrund seiner Größe weder in ein wirtschaftliches noch militärisches Bündnis integrierbar, ohne dieses zu sprengen oder vollkommen zu verändern, wird Rußland gleichwohl ein entscheidender Zukunftsfaktor – auch in sicherheitspolitischer Hinsicht – für das übrige Europa sein.

Aus diesem Grunde sei an eine "Vision" des VdU-Gründers und Rußland-Kenners Herbert Kraus erinnert, welcher die Perspektive eines "Großeuropas", einer Konföderation vom Atlantik bis Wladiwostok entwarf. Diese sollte nicht in Vergessenheit geraten, auch wenn sie angesichts der gegenwärtigen innenpolitischen Situation Rußlands utopisch anmutet. Aber wieviele Experten haben vor zwanzig Jahren die deutsche Wiedervereinigung und den Sturz der kommunistischen Regime für realistisch gehalten? Herbert Kraus verwies darauf, daß die Vereinigung mit Rußland Westeuropa nicht nur von der einzigen "großen Kriegsangst befreien würde. Sie würde uns auch einen unerschöpflichen Markt, 30 oder 50 Jahre Hochkonjunktur, das heißt: noch um vieles mehr als der EU-Binnenmarkt, bringen."

Dieses zusammengeschlossene Groß-europa ist nach Kraus die einzige konsequente Friedensidee für dieses Europa. Was unsere bewegte Umbruchszeit braucht, so Kraus, ist eine Synthese von trockener Vernunft und idealem Streben. Warum sollte der Großeuropagedanke nicht zur Diskussion gestellt werden? Ist es nicht widersprüchlich, das Ende der Ost-West-Spaltung des Kontinents zu feiern und dennoch in alten Denkkategorien gefangen zu bleiben und nicht den Mut zu neue Ideen aufzubringen? Das geistige Paradoxon, nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges die jahrtausendalte Trennlinie zwischen Rom und Byzanz wieder aus der Schublade der Geschichte ziehen zu wollen und nach dem Ende der ideologisch bedingten europäischen Teilung nunmehr eine religiöse ziehen zu wollen, schreit geradezu nach einer Erneuerung der europäischen Aufklärung, welche durch Säkularisierung der Vernunft ihren Weg bahnte – gerade auch zum Wohl jener Staaten, die dieses wertvollste Erbe europäischer Geistesgeschichte nicht miterleben konnten.

Der Mangel an europäischen Visionen und das Fehlen eines klaren politischen Konzeptes für dieses Europa mag mit ein Grund für die immer größer werdende "Europaskepsis" sein. "Wer verliebt sich schon in einen gemeinsamen Markt?" – diese Frage von Jacques Delors bringt diese Skepsis auf den Punkt und wurde vielfach mit der Forderung verknüpft, daß es Aufgabe der Kultur sei, was die Wirtschaft offenbar nicht zu leisten imstande ist: europäisches Bewußtsein zu schaffen. Hier setzt auch die These von Guehenno an: "Man wird europäische Identität nicht mit ein paar Kunstgriffen aus der Epoche der Institutionen erschaffen. Es sind nicht etwa die Institutionen, aus denen das Gefühl der Zugehörigkeit erwächst, sondern erst das Gefühl der Zugehörigkeit läßt uns die institutionellen Zwänge ertragen."

Das Symbol des Euro, Sinnbild für Europa als praktisch-wirtschaftlichen Zweckverband wird schwerlich europäisches Bewußtsein schaffen, so nötig dessen Einführung aus wirtschaftlicher Sicht aufgrund der Globalisierung der Weltwirtschaft auch sein mag. Eine materielle Basis ist conditio sine qua non, aber nicht mehr, ebenso bedarf es eines geistigen Fundamentes, sollen europäisches Bewußtsein und europäische Identität nicht bloße Worthülsen bleiben.

Der Gedanke eines europäischen Staatenbundes stammt zudem nicht aus unserem Jahrhundert; er ist älter. Vorbereitet wurde er von Abbe Castel de Saint-Pierre, der den Unionsgedanken in seinem Traktat vom ewigen Frieden formulierte und von Jean-Jacques Rousseau weiter ausgeführt. Bereits Rousseau erkannte, daß die Verfassungen der an einer politischen Union beteiligten Staaten für deren Wirksamkeit ausschlaggebend sind und daß zwischenstaatliche Konflikte oftmals die Folge von problematischen innerstaatlichen Verhältnissen sind.

Das Europa des kommenden Jahrtausends ist kein Reich des Ewigen Friedens im Kantischen Sinne – ein wirksamer europäischer Minderheitenschutz ist eine gewaltige Schwachstelle in der europäischen "Werteplattform", beschreibt der Wiener Völkerrechtler Hanspeter Neuhold die ungelöste Problematik des Selbstbestimmungsrechtes. Die nationale Problematik ist in Europa in der Tat keineswegs gelöst, der Balkan kann jederzeit zum "Pulverfaß" werden, wie der Krieg im Kosovo trefflich bewies. Das politische Problem eines geeinten Europa ist ebensowenig gelöst, mangelt es doch an einer gemeinsamen europäischen Außen-und Sicherheitspolitik, welche diesen Namen wirklich verdiente.

"Die Moderne ist jene seltsame Zeit, wo das Gute seine Allianz mit dem Alten auflöst, um sich mit Neuem zu verbinden, das Gute beim Neuen zu suchen. Wir sind Interpreten einer unfertigen Welt", formulierte trefflich der Philosoph Peter Sloterdijk.

Dies mag auch für unser heutiges Europa gelten – Europa ist ein Prozeß, ein Willensbildungsprozeß, so vielschichtig wie der uralte Mythos von der Entführung der phönizischen Königstochter Europa durch Göttervater Zeus, welcher später die Beinamen Portitor Europae (Fährmann der Europa), aber auch Proditor Europae (Verräter der Europa) erhielt.

Brigitte Sob ist Publizisten und schreibt unter anderem für die Wiener Wochenzeitung "Zur Zeit"


 
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