© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/99 23. Juli 1999


Franz W. Seidler: Die Militärgerichtsbarkeit der Deutschen Wehrmacht 1939 bis 1945
Auf Bewährung ausgerichtet
Albrecht Jebens

Noch vor kurzem fand man die Schmähparole, daß Soldaten "potentielle Mörder" seien und Berichte über die Enthüllung von Denkmälern für "unbekannte Deserteure" landauf, landab in der Presse. Seit Beginn des Kosovokrieges, an dem erstmals seit 1945 auch unsere Luftwaffe beteiligt ist, verschwand die Hetze gegen unsere aktiven Soldaten aus der Öffentlichkeit, um sich dafür um so stärker und undifferenzierter gegen die Wehrmachtssoldaten zu richten. Sie, die alten Veteranen, bilden den Stoff der "kriminellen Vergangenheit", die nicht vergehen darf; und je älter und kleiner die Schar der alten Soldaten wird, desto polemischer und unwissenschaftlicher werden sie in den Print- und elektronischen Medien geprügelt. Besonders gern wird dabei auf die Militärjustiz eingeschlagen, wobei im Hintergrund immer noch der Sturz des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger 1978 wegen dessen angeblicher Todesurteile als Marinerichter gegen Ende des Krieges eine Rolle spielt. Dankenswerterweise liegt nun in überarbeiteter und erweiterter Form das hier zu besprechende Werk von Franz W. Seidler, bis vor kurzem Ordinarius an der Bundeswehr-Universität München, vor. Schon der unvergessene Erich Schwinge und der US-Völkerrechtler Alfred de Zayas hatten sich große Verdienste um die Militärgerichtsbarkeit des Deutschen Reiches erworben. Das Werk Seidlers fokussiert im Grunde genommen den gesamten verfügbaren Wissensstand aufgrund der souveränen Beherrschung der Materie, die Bewunderung abnötigt. Es ist, dies sei hier vorweggenommen, die wohl kompetenteste und dabei auch für Laien lesbarste Darstellung dieses Abschnitts unserer Militärgeschichte, die es gibt.

Schon in seiner Einleitung macht Seidler darauf aufmerksam, wie schwer es selbst ein Wissenschaftler von Rang habe, die historische Wahrheit zu vertreten angesichts der Vergangenheitsneurose und volkspädagogisch erwünschten Moral unserer "historical correctness"-Medienkohorten. Deshalb nähert er sich dem Thema aus der Perspektive der Bestraften, wobei er klarstellt, daß es abwegig sei, die Todesurteile der Militärjustiz zum alleinigen Maßstab ihrer Bewertung zu machen. So arbeitet er das Dilemma der Wehrmachtsführung im Kriege heraus: Es durfte sich für Soldaten nicht lohnen, Verbrechen zu begehen, um anschließend sich hinter Gittern das eigene Leben bis Kriegsende zu retten und im Falle eines Sieges amnestiert, oder im Falle einer Niederlage als Widerstandskämpfer heroisiert zu werden. Seidler schildert folglich alle Formen des Strafvollzuges, wobei es den härtesten bei den freiwilligen Soldaten der Waffen-SS gab. Höchst aufschlußreich seine Erkenntnis, daß die vielen Bewährungs-, Straf-, Sonder- und Erziehungseinheiten während des Krieges geschaffen wurden, weil die Militärjustiz das Mittel der Strafaussetzung in einem Ausmaß handhabte, wie es die Zivilgerichte nie kannten. Trotz wachsender Militärstraftaten verhinderten die Militärgerichte damit die Überfüllung der Haftanstalten und gaben den Verurteilten unter dem Risiko des Todes, dem damals alle Soldaten ausgesetzt waren, die Chance zur Straftilgung in den genannten Bewährungseinheiten. Andererseits verschweigt der Autor auch nicht, wie schnell im Kriege bisweilen der Stab über Soldaten und Zivilisten wegen Bagatelldelikten (aus heutiger Sicht!) gebrochen wurde. Heutigen Zeitgenossen, besonders Juristen, Militärs und Politikern können die Erkenntnisse Seidlers, die er betont sachlich aufarbeitet, immer streng den Fakten verpflichtet, nicht deutlicher präsentiert werden. Die Wehrmachtsgerichtsbarkeit war eben mitnichten eine besonders grausame Form von "NS-Justiz", eher das Gegenteil. So schuf Hitler bereits im Oktober 1939, weil er der bürgerlichen Militärjustiz nicht besonders traute, eine eigene SS- und Polizeigerichtsbarkeit, und Anfang 1945 wollte er die Militärjustiz sogar abschaffen!

Seidler behandelt zunächst die Strafbestimmungen im Krieg, die Funktion der Strafe im Dritten Reich, dann die Organisation des Wehrmachtsstrafwesens – auch die Festungshaft als Überbleibsel altpreußischer Justiz –, sodann die Wehrmachtskriminalstatistik und die Gnadenordnung sowie die Strafaussetzung zur Bewährung. Den Schlüssel zum Verständnis des gesamten Komplexes aber bildet die Darstellung der Auffassung von Strafe allgemein im nationalsozialistischen Staat. Seit 1933 verfolgte die Strafrechtsreform nämlich das Ziel einer Strafvereitelung. Dabei sollte das bürgerliche Strafrecht der herrschenden Ideologie derart angepaßt werden, daß der Schutz von Volk und Staat, der "wehrhaften Volksgemeinschaft" vor Hoch- und Landesverrat, vor Verletzung seiner Ehre, seiner "Volkskraft", seines "Blutes und Wehrwillens" und der "Volksgesundheit" Vorrang besaß vor dem Recht des Individuums. Obwohl das neue Strafrecht wegen des Kriegsausbruchs nie offiziell in Kraft trat, beeinflußte es doch das Rechtsempfinden der jungen Richter, die eben in ihrer Zeit fortschrittlich sein wollten, nachhaltig.

Deshalb hatte das Recht damals eine gemeinschaftsschützende Funktion, so auch im Militärstrafrecht. Dort galt die Manneszucht als Lebensnerv des Militärs; die "Zersetzung der Wehrkraft" (Ungehorsam, Widersetzung, Tätlichkeiten, Fahnenflucht und Anstiftung zu derselben, Feigheit) galten deshalb als höchst verwerflich und wurden auch vor dem Hintergrund des Traumas der Novemberrevolution 1918 besonders schwer bestraft. Deshalb war der Strafvollzug in den besonders stark nationalsozialistisch geprägten Einheiten von SS und Polizei spürbar härter als bei Marine und Heer; am mildesten aber bei der Luftwaffe, obwohl sie ebenfalls vom Zeitgeist beeinflußt war. Insgesamt wurde, das ist Seidler überzeugend gelungen zu beweisen, das Gnadenrecht in der Wehrmacht großzügig gehandhabt. Diese Schlußerkenntnisse, daß die Wehrmachtsjustiz prinzipiell auf Bewährung – nicht auf Gefängnis oder Todesurteil – ausgerichtet war, daß sie durchlässig war, daß sich die Gerichtsherren, die im Ersten Weltkrieg selbst an der Front gestanden hatten, mit der Vollstreckung von Todesurteilen, wenn sie denn nicht zu umgehen waren, auffällig viel Zeit ließen, um sie durch Neuverhandlungen zu revidieren, ist die Hauptaussage Seidlers.

Völlig zu Unrecht leidet der Ruf der Wehrmachtsgerichtsbarkeit unter dem gnadenlosen Wirken der "fliegenden Standgerichte", die erst 1945, in der Endphase des Krieges, als Schnelljustiz ohne Revisionsmöglichkeit geschaffen wurden, um die beginnende Auflösung der Truppe zu verhindern. Seidler spricht die bedrückende Erkenntnis aus, daß nach verlorenen Kriegen Rechtsprechung und Strafverfolgung immer der besonderen Kritik der Öffentlichkeit unterliegen, und daß diese Kritik in dem Maße unsachlich wird, in dem ihre Träger den Krieg nur noch vom Hörensagen kennen. Überwog nach 1918 die Ansicht, daß die Militärjustiz von 1914 bis 1918 zu milde geurteilt habe und damit für den Zusammenbruch teilweise mitverantwortlich gewesen sei, was die Wehrmachtjustiz wiederum mitgeprägt hat ("Nie wieder Dolchstoß!"), so hält man heute die Militärjustiz des Dritten Reiches für zu brutal, gar für rechtswidrig und selbst kriminell; Vorwürfe, die sich bei Kenntnis der Fakten nicht halten lassen. Wie sie wirklich gewesen ist, wie sie ein Höchstmaß an Rechtssicherheit hat wahren können, wie sie ein Refugium auch vor dem langen Arm von NSDAP und Geheimer Staatspolizei hat sein können unter inneren und äußeren Umständen, von denen man sich heute keine Vorstellung mehr machen kann, das belegt Seidler mit seinem Opus. Ihm ist die denkbar weiteste Verbreitung zu wünschen, vor allem auch in der Bundeswehr, der es erspart werden möge, ein auch nur annähernd ähnliches Schicksal zu haben wie ihre Vorgängerstreitmacht. Seidlers Werk dürfte das Standardwerk zum Thema der Militärjustiz werden. Albrecht Jebens

 

Franz W. Seidler: Die Militärgerichtsbarkeit der Deutschen Wehrmacht 1939 bis 1945. Rechtsprechung und Strafvollzug. Verlag S. Bublies, Schnellbach 1999, 336 Seiten, 74 Abb., 39,80 Mark


 
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