© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/99 23. Juli 1999


Buchpreisbindung: EU-Kommission vertagt Entscheidung
Gottschalk statt Goethe
Silke Lührmann

Noch ist sie also nicht gefallen. Die EU-Kommission entsprach am Mittwoch vergangener Woche den Wünschen der Bundesregierung und vertagte die Entscheidung über die Zulässigkeit der grenzüberschreitenden deutsch-österreichische Buchpreisbindung auf die nächste Amtsperiode.

Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Wird sich die Buchpreisbindung retten lassen? Nein, meinen viele: nicht nur der scheidende EU-Wettbewerbskommissar Karel van Miert und die österreichische Handelskette Libro, die das Verfahren gegen die Buchpreisbindung angestrengt hatte, sondern auch zahlreiche Kommentatoren, denen es weniger um die Rechtmäßigkeit der Buchpreisbindung geht als um die Frage, wie zeitgemäß sie noch sein kann. Hat die technologische Entwicklung sie nicht längst überholt? Die Beispiele, die ins Feld geführt werden, sind bekannt: Die vielbeschworene "Markttransparenz" des Internets, das weltfremde Theoretiker und zuspätgeborene Romantiker als demokratisierendes Medium feiern, während allerorts auf Medienanalyse spezialisierte Unternehmensberatungen aus dem Boden sprießen, mit deren Hilfe die Anbieter danach trachten, auch die letzten brachliegenden Flächen in der blühenden Landschaft des Profits zu erschließen. "Print-on-demand", ein digitales Verfahren, mit dem einzelne Buchexemplare in Minutenschnelle zu einem Seitenpreis von 3,5 bis sechs Pfennig gedruckt werden können. Und überhaupt: Haftet dem Einheitspreis nicht gar ein Mief von Sozialismus an?

Sollte man versuchen, sie zu retten? Ja, meinen viele: vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels über den deutschen Schriftstellerverband und den European Writers‘ Congress bis hin zu Gerhard Schröder. Auch ihre Argumente sind bekannt: die Wahrung einer weltweit außergewöhnlichen Vielfalt, auf die der deutsche Literaturbetrieb in der Tat stolz sein kann; die Möglichkeit idealistischer Verleger, literarisch hochwertige Verkaufsnieten durch Bestseller zu "subventionieren"; nicht zuletzt der Unwillen, die Kultur den Kriterien Brüsseler Bürokraten zu unterwerfen. Daß die Entscheidung über die grenzüberschreitende deutsch-österreichische Preisbindung nur als erster Schritt zur Abschaffung des festen Ladenpreises in Deutschland gedacht ist, darüber scheinen sich alle Beteiligten einig zu sein.

In den USA und Großbritannien wird Literatur seit langem und ganz unverkrampft als Konsumware gehandelt. Von den zahlreichen Second-Hand-Buchläden abgesehen, gibt es kaum noch traditionelle Buchhandlungen – jene verwinkelten, vollgestopften Läden mit Holzregalen, in denen man einen ganzen Regentag lang stöbern kann, ohne irgendeinem Kaufzwang ausgesetzt zu sein, oder aber auf Wunsch fachkundig und liebevoll beraten wird. Statt dessen sterile Buchkaufhäuser mit wöchentlich wechselnden Sonderangeboten, die sich auf Verkaufsschlager und visuell aufwendige, gefällige coffeetable books spezialisieren. Und den neuesten Stephen King gibt es im Supermarkt zum halben Preis, wenn man dazu noch eine Packung Persil mitnimmt ("Entfernt auch die hartnäckigsten Blutflecken!").

Die erfolgreichsten Schriftsteller haben den gesellschaftlichen Status von Prominenten, wie er hierzulande bislang Fußballspielern, Politikern und Fernsehstars vorbehalten ist. Sie werden in die "David Letterman Show" eingeladen oder dürfen Seite an Seite mit den Spice Girls das Tagesgeschehen kommentieren. Wann hat man Botho Strauß dagegen zuletzt bei "Wetten, daß?" auftreten sehen? Oder Martin Walser in einer Rasierwasserwerbung?

Es kann dafür passieren, daß man einen Vertreter jener allmächtigen Parasitenzunft der literarischen Agenten kontaktiert und ganz unverblümt zu hören bekommt, im Alter von 57 Jahren habe man wenig Hoffnung, einen ersten Roman zu veröffentlichen. Fast jedes Erstlingswerk birgt ein hohes kommerzielles Risiko, das Verleger nur zu tragen bereit sind, wenn Aussicht auf eine langjährige Karriere mit stetig steigenden Verkaufszahlen besteht. Wer allerdings jung und telegen ist, der bekommt schon mal einen sechsstelligen Vorschuß angeboten.

Wenig von alledem hat unmittelbar und offensichtlich etwas mit der Buchpreisbindung zu tun. Aber die Frage, die hinter der beschriebenen Entwicklung wie hinter dem hiesigen Gerangel um die Buchpreisbindung steht, ist dieselbe: Welche gesellschaftliche Funktion erfüllt Literatur? Ist sie Lebensnotwendigkeit oder Luxusartikel, Geschäft oder Berufung? Was bedeutet es schließlich, sie rechtlich mit jeder anderen Industriebranche gleichzustellen, wie es die Anwendung des Kartellverbots impliziert, so daß sie sich genauso dem freien Wettbewerb stellen muß wie alle anderen Objekte und Produkte menschlicher Aktivität?

Schon Goethe – selber einer der bestbezahlten Männer im Großherzogtum Sachsen-Weimar – war sich darüber im klaren, daß Bücher "Kapital" darstellen. Nichts anderes sagt heute Kulturminister Naumann, wenn er sein Ressort unermüdlich als expandierenden Dienstleistungssektor anpreist und betont, Kultur diene keineswegs der "bloßen" Erbauung, sondern bilde den Markt des nächsten Jahrhunderts. Dagegen läßt sich höchstens noch kleinlaut einwenden, der Literatur komme aber als Hüterin des kulturellen Gedächtnisses eine Sonderstellung zu, der Schriftsteller müsse als Librettist des Zeitgeistes vor der drohenden "Kannibalisierung" (Schriftstellerverbandsvorsitzender Fred Breinersdorfer) bewahrt werden. Braucht – und verdient – eine Gesellschaft, die sich erbarmungslos dem Gesetz von Angebot und Nachfrage, Simulation und Stimulanz verschrieben hat, aber ein kulturelles Gedächtnis? Genügt ihr nicht das Kurzzeitgedächtnis eines MTV-Clips, der fetischisierte Zivilisationsmüll postmoderner Kunst und Architektur? Drückt nicht das Grinsen Thomas Gottschalks, unterlegt von dem Ohrwurm aus Kindertagen "Haribo macht Kinder froh / und Erwachs‘ne ebenso", den Zeitgeist eloquenter und präziser aus, als irgendein Roman das jemals könnte?

Als Grundschülerin bekam ich ein wöchentliches Taschengeld von 1,50 Mark: Alle 14 Tage sollte ich mir ein Taschenbuch kaufen können. Die kosteten 2,80 Mark, und für die restlichen 20 Pfennig gab es damals – auch ohne Preisbindung – überall eine ganze Kugel Eis. Die siebziger Jahre sind unwiederbringlich vorbei, in jeder Hinsicht. Muß man ihnen nachtrauern?

 

Silke Lührmann hat Literaturwissenschaft in Marburg und Yale studiert. Zur Zeit schreibt sie an ihrer Dissertation zum Thema Gewalt und Fiktion.


 
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