© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/99 23. Juli 1999


Drohgebärden
von Helmut Müller

Von Napoleon stammt die Aussage, wenn China einmal erwacht, werde die Welt erzittern. Ist dieser Tag gekommen? Die jüngsten Drohgebärden Pekings haben den Blick auf den krisengeschüttelten pazifischen Raum gelenkt. Wiewohl vordergründig Taiwan ins Visier der alten Garde im Mutterland gekommen ist, wird in Wirklichkeit darüber hinaus gezielt. Die gegenwärtige politische Klimaverschlechterung kommt daher nicht überraschend, ist aber seit der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad erstmals offenkundiger geworden.

Innenpolitisch sieht sich die kollektive Führung in Peking mit größeren Problemen – dazu zählt eine massive Landflucht – konfrontiert, wobei ihr sehr daran gelegen ist, es nicht zu einer sozialen Explosion kommen zu lassen. Die Bedingungen für eine Volkserhebung wären an sich gegeben, doch mangels einer demokratisch strukturierten Bewegung würde die Armee das Heft in die Hand nehmen. Die Reformer um Ministerpräsident Zhu Rongji sind sich der Problemlage bewußt: Es gilt die Reformen weiterzuführen, ohne dabei die Diktatur der Partei in Frage zu stellen. Insofern könnte die ins Spiel gebrachte Karte des chinesischen Nationalimus bewußt auch als ein innenpolitisches Ablenkungsmanöver gesehen werden.

Außenpolitisch stellt sich die Situation so dar: Auf der einen Seite versucht Washington, dessen Rüstungslobby eine chinesische Bedrohung ausmacht, sein Bündnissystem in diesem Raum zu verstärken. Daher wird, nicht zu Unrecht, von chinesischer Seite der Aufbau eines Raketenabwehrsystems befürchtet. Diesbezügliche Gespräche Washingtons mit Taiwan – das an Patriot-Raketen interessiert ist – aber auch mit dem etwas vorsichtigeren Japan haben bereits stattgefunden. Zwar sind die US-Bemühungen offiziell eher gegen Nordkorea gerichtet, dessen Raketenversuche japanische Befürchtungen ausgelöst haben, doch traut Peking den Amerikanern seit der Kosovo-Intervention nicht mehr, könnten doch die Intentionen Washingtons die Unabhängigkeit Taiwans beschleunigen. Nicht zuletzt hat man dabei aber auch die Unruheprovinzen Sinkiang und Tibet im Auge. Insofern könnten die gegen die vor dem Festland gelegene "abtrünnige Provinz" gerichteten Warnungen auch in diese Richtung verstanden werden. Wohl nur das übliche von Säbelrasseln begleitete diplomatische Geplänkel vorerst, das aber nicht darüber hinwegtäuschen soll, daß Peking gleichzeitig mit vermehrter Anstrengung an die weitere Stärkung und Modernisierung seiner Verteidigungskräfte herangeht und, durch Moskaus Stillhalten beflügelt, in Zukunft nach Innen wie nach Außen entschiedener auftreten wird.


 
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