© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/99 16. Juli 1999


Musik: Die Rückkehr der britischen Art-Rock-Band Barclay James Harvest
Konkurrenz für Ramazotti
Holger Stürenburg

In den frühen achtziger Jahren wollte sich niemand jenseits seiner eigenen Stereoanlage zu Barclay James Harvest und deren romantischem, meist durchaus etwas "müden" Keyboard-Pop bekennen – trotzdem standen Alben wie "Turn of the Tide" oder "Victims of Circumstances" wochenlang an der Spitze der Hitparade und erhielten eine "Goldene" nach der anderen.

Die Karriere von Les Holroyd, John Lees und Mel Pritehard begann bereits im Sommer 1970. Gemeinsam mit Wooly Wolstenholme hatten sie ihre erste LP veröffentlicht, und feierten mit ihrem tastenlastigen Art-Rock weniger in ihrer britischen Heimat große Erfolge, denn in Deutschland, wo bereits ihre erste Live-Doppel-LP im Jahre 1974 für frühe Lorbeeren sorgte. Die wirklich fetten Jahre – wiederum nahezu ausschließlich hierzulande – begannen für BJH jedoch erst 1977, als ihre LP "Gone to Earth" (mit dem Hit "Hymn") für eine erste Top-10-Plazierung sorgte.

BJH waren reine Album-Stars, ihre Singles verkauften sich meist wesentlich weniger gut. Dies mag damit zu erklären sein, daß 45er meist von Jugendlichen zwischen 10 und 17 gekauft werden, während Alben ihre Käufer bei 21- bis 41jährigen, also Erwachsenen finden. Und Erwachsene aller Schattierungen, Schichten und Ideologien liebten BJH – selbst wenn es keiner von ihnen offen zugab. Der einzige wirkliche Single-Hit war im Sommer 1981 der eingängige Popsong "Life is for Living", der auf progressiven Keyboard-Rock mit ellenlangen Soli verzichtete.

Für ihre Erfolge in Deutschland bedankte sich die Band ebenfalls im Jahre 1981 mit einem Gratiskonzert vor dem Berliner Reichstag, das von 175.000 Zuschauern bejubelt wurde, ein Jahr später als Live-Album "Berlin" den Ruf der Band als Hitparadenstürmer festigte und sogar nach jahrelanger Abstinenz für eine Rückkehr in die Hitlisten ihrer britischen Heimat sorgte.

Während die Fans BJH liebten, kannte die Verachtung der Kritiker kaum Grenzen: Man schrieb von "Klangpudding", "Keyboard-Pampe", "pseudointellektuellem Schmus". Das größte Stigma hatte sich die Band jedoch selbst verabreicht. Bereits 1977 hatten BJH das Lied "Poor Man’s Moody Blues" aufgenommen, in dem sie sich selbst als proletarische Antwort auf die ach so intellektuelle Kunstrock-Band Moody Blues klassifizierten. Die Kritiker hatten diese eher als Satire gedachte Selbsteinstufung von BJH nicht verstanden und sie ihnen bis heute vorgeworfen.

Die Begeisterung der Fans kannte jedoch auch zur Jahreswende 1983/84 keine Grenzen, als "Victims of Circumstances" erschien. Diese LP war nicht nur wiederum ein Top-10-Hit, sondern öffnete wegen ihrer modischen Orientierung in Richtung Synthi-Pop und Wave den Weg in Richtung neuer Fanschichten zwischen Depeche Mode-Fans und Romantic-Poppern. Nach einer ebenfalls höchst einträglichen Tournee im April/Mai 1984 sah es so aus, als könnten BJH ein Top-10-Abonnement auf ewig hierzulande abschließen, und auch in den nächsten Jahren mit ihren filigranen, fast symphonischen Kleinoden zwischen Pop und Rock die Fans begeistern und die Kritiker provozieren. Dank Chris de Burgh, Chris Rea oder Saga war romantischer, handgemachter Pop-Rock sehr angesehen und galt als Alternative zum oft kühlen Synthi-Pop der damaligen Wave- und New Romantic-Helden.

Aber BJH machten einen großen Fehler, inden sie die Hochzeit des klassischen Pop und Rock Mitte der 80er "verschliefen" (vielleicht haben sie ja auch nur zu lange ihre eigenen Platten gehört und sind dabei kräftig eingenickt) und erst im Sommer 1987 ihr nächstes Album vorlegten. Doch mit "Face to Face" lieferten BJH nur noch einen müden Abklatsch ihrer Erfolge und der Stimmung ihrer Songs aus den frühen bis mittleren Achtzigern. Ein Jahr später gaben sie – Gorbatschow und seine Öffnungen gen Westen hatten es möglich gemacht – ein Gratiskonzert, das dieses Mal jedoch im Ostteil Berlins stattfand und mit dem programmatischen Titel "Glasnost" ebenfalls als Live-LP veröffentlicht wurde, jedoch selbst in der einst BJH-begeisterten Bundesrepublik nur auf Platz 47 der Hitlisten landete.

1990 starteten BJH den letzten Versuch, an ihre alten Erfolge anzuknüpfen. Das Album "Welcome to the Show" beinhaltete geradlinige, schlanke Rock-stücke, die oft näher bei Bryan Adams ertönten denn beim Kunstrock der siebziger Jahre. Noch einmal konnten BJH Top-10-Luft schnuppern und mit dem verhalten rockenden Titelsong auch einen Radiohit für sich verbuchen.

Was sich in den Neunzigern mit BJH abspielte, gelangte kaum in die Öffentlichkeit. Ihre Plattenfirma Polydor hatte sie entlassen, die beiden CDs "Caught in the Light" (1993) und "River of Dreams" (1997) wurden höchstens belächelt, ansonsten aber von Presse und Radio schnell dem großen Haufen ausgemusterter CDs zugefügt.

Somit tauchten die ersten Trennungsgerüchte auf, die dazu führten, daß sich die beiden Köpfe der Band, John Lees und Les Holroyd, einen Urlaub von BJH gönnten. Beide hatten vor einem Jahr beschlossen, eigene Bands zu gründen, mit denen sie, jeder für sich, ein Album mit bekannten BJH-Hits und neuen Kompositionen aufnehmen wollten. John Lees ist nun der erste, der dieses künstlerisch interessante Projekt erfolgreich beendet hat. Gemeinsam mit dem bereits 1980 ausgestiegenen Keyboarder Wooly Wolstenholme und zwei jungen Musikern ging er ins Studio und nahm das Album "Nexus – Through the Eyes of John Lees" auf, das in diesen Tagen erschienen ist.

Zunächst wollte jedoch niemand der Achtziger-Jahre-Hitband eine neue Chance geben. "Unsere vergangenen Erfolge waren nichts mehr wert", mußte Lees eingestehen. Wie eine Nachwuchsband mußten BJH – d.h. Lees und Wolstenholme – Demos herstellen und die Firmen von deren Qualität überzeugen. Bei EAGLE-Records, einem Hamburger Label, das sich vor allem als Wiederaufstiegschance für Achtziger-Helden wie Robert Palmer, The Stranglers oder Nik Kershaw hervortut, war bald ein Vertrag unter Dach und Fach, und "Nexus" konnte erscheinen.

Sechs alte Klassiker aus der Zeit, als Wolstenholme fest zu BJH gehörte, wurden für eine Neuaufnahme ausgesucht und mit einem halben Dutzend aktueller Kompositionen ergänzt. Das Ergebnis dieser Mischung kann sich durchaus hören lassen. Natürlich klingen BJH noch immer "verschlafen" und ein bißchen lethargisch. Aber genau diese Haltung der Band, sich niemals aus der Ruhe bringen zu lassen, ihre Songs in Konzerten mehr zu zelebrieren als einfach drauflos zu rocken, hatte ja immer den speziellen Charme und die Eigenständigkeit von Barclay James Harvest ausgemacht.

Vor allem die bekannten Hits "Hymn", "The Iron Maiden" oder "Mockingbird" erklingen in hellem Glanz und aktuellem Keyboard-Gewand. Und auch die neuen Songs fallen neben den Klassikern nicht ab, sondern zeigen, was BJH in den Neunzigern drauf gehabt hätten, wären sie nicht in der Masse neuer Veröffentlichungen untergegangen.

Derzeit touren Wolstenholme und Lees durch die Freiluftarenen Deutschlands und planen für den Herbst ihre Wiederkehr in die Hallen dieser Republik. Nun ist noch abzuwarten, wie Les Holroys Solo-Arbeit klingen wird. John Lees allein ist Klasse, Les Holroyd – vermuten die Fans – dürfte dem in nichts nachstehen. Aber vielleicht befördern diese getrennten Projekte auch die Rückkehr als gesamte Band – Holroyd, Lees, Wolstenholme und wer sonst noch dazugehört.

Dann könnte das erste größere Musik-Comeback des neuen Jahrtausends von Barclay James Harvest absolviert werden, das Achtziger-Jahre-Revival endlich Sinn und Zweck bekommen, und vor allem müßte man nicht mehr auf Eros Ramazotti zurückgreifen, wenn man nach einem harten Arbeitstag in Ruhe schlafen, träumen und sinnieren möchte.


 
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