© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/99 16. Juli 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Präzedenzfall
Karl Heinzen

Gemeinnutz geht nicht vor Eigennutz: Diese Lektion ist den Deutschen in diesem Jahrhundert gründlich erteilt worden, und sie darf auch nicht leichtfertig durch eine Bundesregierung der Vergessenheit überantwortet werden, die emotional noch in den sechziger, vielleicht sogar in den vierziger Jahren beheimatet ist. Wer sich um ein öffentliches Amt bewirbt und das Wohl des Geheimwesens als seine Motivation ausgibt, ist nicht bloß unehrlich, er schiebt auch eine Lüge vor, die nicht mehr in die Zeit paßt und alle zivilisatorischen Standards, die uns teuer sind, aushöhlt. Wer bewußt sein eigenes Wohl im Auge hat, weiß eher um die Relativität seines Anspruchs, weiß auch eher, sich einmal zurückzunehmen, als jemand, der sich tatsächlich aufmacht, die öffentlichen Interessen zu ergründen und zu vertreten. Was als Orientierung am Gemeinwohl begann, ist bislang fast immer in furchtbaren Verbrechen geendet – hier besteht wirklich kein weiterer Lernbedarf.

Der Wähler kann also nur Politikern vertrauen, von denen er vermuten darf, daß sie an sich selbst zuerst denken. Nur von ihnen darf er erwarten, daß sie auch nicht zu moralischen Appellen, zu einer Rhetorik des allgemeinen Verzichts greifen, wenn sie selber versagt haben. Wer seine persönlichen Interessen als Triebfedern seines Handelns nicht verhehlt, wird es seinen Mitmenschen nicht versagen, wenn sie sich ebenso verhalten. Was aber hat die Öffentlichkeit den Politikern zu bieten? Es wäre anachronistisch, hier weiterhin mit so altruistischen Begriffen wie Eitelkeit oder Geltungssucht zu hantieren. Niemand, der in die Politik geht, kann darauf hoffen, allein dadurch berühmt zu werden, geschweige denn sich zu verewigen.

Eine berechenbare Politik gibt es nur dann, wenn sie sich auch für ihre Macher rechnet. Wer die Verdienstmöglichkeiten von Amtsträgern beschneidet, darf sich hinterher nicht über Korruption beklagen. Jede transparente Bereicherung von Politikern ist einer Heimlichtuerei vorzuziehen. Wer das Erwerbsstreben als motivierende Triebfeder im öffentlichen Sektor domestizieren möchte, züchtet sich Politiker heran, die entweder Schauspieler sind oder aber die Gesellschaft nicht mehr verstehen. Dies können aber kaum die geeigneten Auswahlkriterien sein.

Deshalb verdient Martin Bangemann nicht nur unser aller Respekt und Solidarität: Er muß verteidigt werden, weil es sich hier um einen Präzedenzfall handelt, der unser Gemeinwesen aus den Fugen zu bringen droht. Es gilt, dem Neid zu trotzen und einem unrealisitischen Begriff von Demokratie mit all seinen totalitären Implikationen entgegenzutreten. Wer weiß, wie es geht, muß in einer freien Gesellschaft auch Erfolg haben dürfen. Man kann den Fall zudem politisch betrachten: Wir sollten uns auch über kleine Korrekturen unserer Nettozahler-Rolle freuen.


 
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