© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/99 09. Juli 1999


Fußball: Die traditionsreichen Kickers aus Offenbach spielen wieder zweitklassig erstklassig
Wenn der Berg brennt
Ellen Kositza

Eines frühen Morgens ging ich einmal in der Strandeinsamkeit einer griechischen Insel spazieren, als ich unversehens einen anhänglichen Einheimischen im Schlepptau hatte. Eine der obligatorischen und leicht auszudenkenden Fragen, die frühwache Kreter wohl schlendernden Touristinnen zu stellen pflegen, ist die Frage nach der Herkunft. "From Offenbach", antwortete ich, und das war eigentlich wenig kooperativ gemeint – welcher Grieche kennt schon Offenbach, die Griechen in Offenbach ausgenommen? "Frankfurt" als prominentere Nachbarstadt wäre die hilfreichere Antwort gewesen, Offenbach dagegen: Halbprovinz, angeschmuddeltes Arbeiterstädtchen, bundesweit die häßlichste Innenstadt, die höchste Tbc-Rate und Fluglärmbelastung nebenbei.

Um so verblüffender die Antwort des anscheinend kulturbeflissenen Interessenten: "Ah, then you know the Bieberer Berg?" The Bieberer Berg, so stellte sich heraus, war ein Erinnerungsrelikt eines halbjährigen Deutschlandaufenthalts, der sich aber keineswegs im Hessenland abgespielt hatte.

Damit erwies sich als wahr, was Offenbacher Lokalpatrioten schon seit jeher behaupten: Der Offenbacher Fußballclub, die "Kickers", besitzen internationales Ausstrahlungspotential.

Das eine Kapitel ist die Kickersmannschaft und der Verein selbst, der wohl wie kein anderer ebenso dramatisch wie stetig durch die Jahrzehnte hindurch die höchsten Höhen und die tiefsten Tiefen (Hessen-Oberliga, zuletzt in der Saison 96/97) durchwandert hat. Spektakulär, um nur einen Aspekt der Legendenbildung zu nennen, verlief der Aufstieg in die Drittklassigkeit der Regionalliga 1997: Im alles entscheidenden Spiel gegen Memmingen vor über 15.000 Zuschauern (Oberliga!), die Gegner führen, wird es wenige Minuten vor dem Schlußpfiff dunkel im Stadion – die Flutlichtanlage streikt. Keine Sabotage, die Technik spielt Schicksal, und im Wiederholungsspiel gelingt den Kickers der glorreiche Aufstieg.

Nach der elenden Zeit in der Oberliga (wegen finanzieller Mauscheleien und daraus resultierendem DFB-Lizenzentzug )spielten die Kickers nun zwei Jahre auf den vordersten Tabellenplätzen der Regionalliga-Süd. Regionalliga: das bedeutet im Normalfall das Zusammentreffen von Hinz-und-Kunz-Vereinen wie "Pfullendorf" und "Wehen" vor 800, bisweilen auch 1.200 Zuschauern, üblicherweise rekrutiert aus den jeweils heimischen Stammtischen. Spielt dagegen der OFC, hat das Ereignis gewöhnlich Volksfestcharakter, 20.000 Anhänger und Live-Übertragungen im Fernsehen sind hier keine Ausnahme. Und damit wäre man beim zweiten Kapitel der OFC-Historie – den Fans.

Identitätsheischend in einer Stadt, die nichts zu bieten hat, damit einhergehend umgeben vom Nimbus der ungerecht Deklassierten war der OFC in vergangenen Zeiten und seit wenigen Jahren erneut Symbol und Parole der Underdogs im Rhein-Main-Gebiet. "Der Berg brennt" ist eine beliebte Titelzeile, gemeint ist die Masse von rot lodernden Fackeln und dem roten Nebel; Feuer im Stadion, das in den kapitaldominierten Bundesligen untersagt ist. Die Kickers, das sind mehr noch als die Spieler die dauereuphorische Anhängergemeinde. Statt Schnellsprint-Exporten aus Afrika, wie es andernorts selbst bei Regionalligisten die Regel ist, rekrutieren Klaus Gerster und Hans-Jürgen Boysen als Manager und Trainer gerne vereinseigenen Nachwuchs – auch das fördert den Zusammenhalt.

Kritische Situationen sind bei solcher Symbiose nicht ausgeschlossen, zu denken ist dabei etwa eine vierte Niederlage in Folge 1995, als eine furiose Masse den Platz stürmte und mit Wurfgeschossen aller Art auf die Spieler zielte. Kritik müssen sich die wilden Fans selbst von den Hauschronisten gefallen lassen, die bemängeln, daß rassistische Schmähungen gegen Spieler schwarzer Hautfarbe nicht zu überhören seien. Sind tatsächlich die sonoren "uh-uh-uh"-Rufe in solchen Fällen nicht zu überhören, gibt es dennoch als anständige Gegenkräfte das tapfere Fähnlein der "Kickers-Fans gegen Rassismus", unvergessen bleibt weiterhin der drohende Zusammenbruch des Fans neben mir, der mit rollenden Augen "Erschießen müßte man die Faschos, alle!" keuchte. Einen annehmbaren Durchschnitts-Fantypus skizziert man wahrscheinlich mit gängigen Lautsprecherdurchsagen wie dieser: "Wir gratulieren Jürgen Soundso auf Block 2! Herzlichen Glückwunsch, Jürgen, Ihre Frau hat soeben Zwillinge zur Welt gebracht!"

Auch ein hartgesottener Traditionsverein wie die Offenbacher Kickers, die in zwei Jahren hundertjähriges Jubiläum feiern dürfen, geht mit der Zeit. Ein netter Beleg ist etwa die Lautsprecher-Hymne aus der Musikkonserve, die die grölende Anhängerschaft stimmungsvoll begleiten darf: "OFC – das Feeling ist okay ..." Da wiegt sich das Fan-Herz gerührt im Takt der Melodie, bei solchem Feeling darf schon mal sentimental ein Tränchen fließen.

Wenn es um Hooliganism geht, erreicht man auf dem Bieberer Berg mitunter englisches Niveau. Ein jüngstes Beispiel lieferte das Spiel des Regionalliga-Giganten OFC gegen die Multikulti-Mannschaft Waldhof Mannheim am diesjährigen Christi-Himmelfahrt-Tag, präziser: am Vatertag, an dem traditionsgemäß, wer als Offenbacher Bub auf sich hält, schon um die Mittagsstunde nicht mehr gerade gucken kann. 0:0 endete die Begegnung und sicherte damit dem Tabellenspitzenreiter Mannheim den Aufstieg in die Zweite Liga. Es war jedoch die dritte Halbzeit, die den Offenbachern eine Titelschlagzeile in der Bild-Zeitung sicherte – hier sprach man von den "schwersten Ausschreitungen in Deutschland seit Jahren".

Radaubrüder auf der Mannheimer Seite hatten schon während des Spiels Latten und Metallrohre von der maroden und gesperrten Stahlrohrtribüne ins Publikum geworfen, ohne daß von seiten der Polizisten nachdrücklich eingegriffen worden wäre.

Nach dem Abpfiff dann kam es auf Offenbachs Straßen zu einer Sause ganz nach dem Gusto der deutschlandweit angereisten Randaletruppen, die sich teilweise schon Wochen zuvor im Internet zum Blutfest auf dem Bieberer Berg verabredet hatten. "Geil, das ist Krieg!", juchzte es unter Baseballkappen – und die Umgebung des Stadions bis zum zwei Kilometer entfernten Ostbahnhof wurde in ein Schlachtfeld verwandelt. Autoreifen und Müllcontainer wurden in Brand gesetzt, Streifenwagen und Privatautos zerstört, Polizeiketten überrannt und versprengt – Bilder anarchistischer Verwüstung, wie man sie sonst nur von den Demonstrationen der Antifa oder den Chaos-Tagen kennt.

Nach dem skandalösen Versagen der Polizei, die statt auf konsequentes Durchgreifen von Anfang an im Rahmen einer Deeskalation auf Maximen der Formaldienstordnung des Alten Fritz setzte und beim wellenartigen Stürmen in Formation hilflos auf noch hilflosere, weil gewaltfreie Spielbesucher einknüppelte, wurden nun andere Saiten aufgezogen auf dem Bieberer Berg.

Ein Hubschrauber, der sich freilich nicht mit den startenden und landenden Flugzeugen in die Wolle kriegen soll, darf nun während der Spiele über dem Stadion kreisen, im Stadion selbst gehört schätzungsweise jeder zehnte Platz einem Polizisten mit kläffendem Riesenhund an der Leine. Aber das Feeling, jenes spezielle, das wird bleiben.


 
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