© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/99 09. Juli 1999


Außenpolitik als Lockerungsübung
von Sebastian Sasse

eschichte wird gemacht, es geht voran!" Diese Liedzeile aus der Zeit der "Neuen Deutschen Welle" ist eine Umschreibung der Gefühlslage, die momentan in unserem Land herrscht. Die Bundesrepublik hat zwei große Zäsuren in kurzer Zeit hinter sich gebracht: Zum einen die Stationierung deutscher Bundeswehrangehöriger im Kosovo, zum anderen den nun endgültigen Umzug von Regierung und Parlament nach Berlin.

Die deutsche Teilnahme am Kosovo-Krieg wird gemeinhin als Rückkehr Deutschlands auf die weltpolitische Bühne gefeiert. So versuchen Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer sich in ihrem Bemühen gegenseitig zu überbieten, die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg als einen Beweis für die wiedererlangte staatliche Souveränität Deutschlands darzustellen. Und in Sachen Berlin-Umzug verstieg sich selbst Altkanzler Kohl in einem Fersehinterview zu der Feststellung, daß Deutschland nun "östlicher" geworden und dieser Tatsache somit nun auch von seiten der deutschen Außenpolitik Rechnung zu tragen sei.

Konstituiert sich also im Moment wirklich eine "Berliner Republik", die auf neue Freiräume in der Gestaltung der zukünftigen deutschen Außenpolitik hoffen läßt? Oder sind diese Anzeichen allesamt nur Luftblasen, die lediglich, indem sie als Anzeichen eines neuen Aufbruchs verkündet werden, von den erheblichen innenpolitischen Problemen der rot-grünen Bundesregierung ablenken sollen?

Wenn man die Schlagwörter von Schröder, Fischer & Co einmal beiseite läßt und betrachtet, inwieweit derartige Vorstellungen in konkrete Politik umgesetzt worden sind, so tut sich vor einem lediglich ein schwarzes Loch auf. Die Lücken, die 16 Jahre christlich-liberale Außenpolitik hinter sich gelassen haben, sind bisher in keiner Weise gestopft worden. Schröder hat im Bundestagswahlkampf bewußt starke Sprüche geklopft und versprochen, daß wenn er erst einmal Bundeskanzler wäre, er auch für eine stärkere Durchsetzung deutscher Interessen als der angeblich Europa-hörige Kohl eintreten werde. So kündigte er an, die Netto-Beitragszahlungen Deutschlands an die EU, die sich momentan auf ungefähr 22 Milliarden Mark jährlich belaufen, auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren, da Deutschland nicht der "Lottogewinner Europas" sei.

Doch die Realität hat diese Aussagen bereits als populistische Floskeln entlarvt: die neusten Informationen aus Brüssel lauten, daß die Netto-Beträge weiterhin steigen und im Jahre 2006 rund 30 Milliarden Mark betragen sollen. In allen Punkten, in denen Schröder seinen Willen hätte beweisen können, eine neue Rolle der deutschen Außenpolitik zu definieren, hat er sich lieber dem europäischen Mainstream angepaßt.

Um erfolgreich Außenpolitik zu gestalten, ist es nötig, mit den historischen, geographischen sowie wirtschaftlichen Faktoren des eigenen Landes gewinnbringend für das gesamte Volk umgehen zu können. Diese Fähigkeit fehlt dem Kanzler augenscheinlich. Schröder besitzt zwar – wie es oft bei Volkstribunen vorkommt – ein Gespür für die Wünsche der Masse der Bevölkerung und entpuppt sich dabei als Großmeister des Kurzzeitdenkens. Ein Volk setzt sich aber nicht nur aus der Summe seiner materiellen Interessen zusammen, sondern es besitzt auch eine historische Dimension: Die gemeinsame Geschichte aller Deutschen. Ein Gefühl dafür, daß man gegenüber dieser gemeinsamen Vergangenheit gewisse Verpflichtungen hat, die sich auch politisch niederschlagen sollen, besitzt Schröder nicht. Der Kanzler ist zwar bereit, feierliche Reden zu halten oder Gesten des guten Willens abzuliefern, wie etwa der Auftritt von Bundesinnenminister Schily am "Tag der Heimat" im Berliner Dom beispielhaft zeigt, nicht aber zu einer konkreten politischen Einbindung der Vertriebenen in seine außenpolitischen Konzepte. Erinnert sei nur an den Umgang des Außenministeriums mit dem Verein für Deutsche Kulturbeziehungen im Ausland (VDA) oder an Schröders Aussagen zu dem Schicksal der aus den Ostgebieten vertriebenen Deutschen. Die Unterstützung des Bundes für den VDA wurde kurzerhand gestrichen, die Mittel für die Kulturarbeit der ostdeutschen Vertriebenen werden um sechs Millionen Mark gekürzt. Laut Kultur-Staatsminister Naumann (SPD) hat eine historische Entwicklung stattgefunden, nach der die emotionalen Bedürfnisse der Vertriebenen nicht mehr eine Rolle in dem Ausmaß spielten, wie es die bisherige Kulturarbeit vorgesehen hätte.

Deutschland habe "das Selbstbewußtsein einer erwachsenen Nation", so Gerhard Schröder in seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler. Ein normales Stadium auf dem Weg zum Erwachsenwerden ist die Abnabelung von den Eltern. Die Eltern der Bundesrepublik Deutschland sind die westlichen Alliierten, vor allem die USA. Man muß nicht gleich die polemische Feststellung Martin Niemöllers "in Rom gezeugt, in Washington geboren" als Beschreibung für den Entstehungsprozeß der Bundesrepublik heranziehen, doch daß die USA eine wesentliche Rolle als (Um-)Erzieher gespielt haben, sollte unumstritten sein. Die Vereinigten Staaten haben ihr "Ziehkind" demzufolge auch fünfzig Jahre nicht aus den Augen gelassen, in Politologendeutsch formuliert: es "eingebunden". So wurden sie zu Deutschlands Vormacht, und sie sind es nach der Wiedervereinigung geblieben.

Es ist zwar der These Karlheinz Weißmanns (JF 15/99) zuzustimmen, daß die USA die "sanfteste" aller denkbaren Vormächte sei und es weiterhin nötig ist, die atlantische Zusammenarbeit fortzusetzen. Zu einer Partnerschaft gehört aber auch, zu wissen, was man dem anderen militärisch und politisch an Kraftanstrengungen abnötigen kann. Ein solches Verhältnis bestand während des Kosovo-Krieges, wo sich Deutschland spätestens in der bevorstehenden Befriedigungsphase übernehmen wird, nicht. Gerhard Schröder spricht über diese Probleme nicht mit seinem "Freund" Bill Clinton, sondern deckt alle Schwierigkeiten mit seiner Rhetorik zu. Zudem wirkt die Überbetonung der angeblich erreichten "Normalität" verwirrend. Entweder hat man einen Zustand der politischen Normalität erreicht – oder eben nicht. Schröders Verhalten zeugt eher von einer Angst vor Verantwortung, als daß es auf einen selbsbewußten politischen Gestaltungswillen schließen ließe.

Die Nato hatte in der Zeit des Kalten Krieges die Funktion eines Schutzbündnisses der westeuropäischen Staaten vor dem imperialen Machtstreben der Sowjetunion. Sie war der Motor der deutsch-atlantischen Zusammenarbeit. Jetzt aber, nach dem Zerfall der Sowjetunion, ist die Nato ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt. Es kann zumindest nicht ihr Sinn sein, zur Einsatzgruppe zur Durchsetzung US-amerikanischer Zielsetzungen in Europa zu verkommen. Deutschland und mit ihm Europa befinden sich momentan sicherlich in einer Übergangszeit, doch indem man den Status quo zur Staatsdoktrin erhebt, wird diese Frage jedenfalls nicht gelöst. Dabei ist vor allem vonnöten, die Beziehungen Deutschlands zu Rußland, auch im Hinblick auf die bevorstehende EU-Osterweiterung, zu klären. Hier gilt es an die traditionell gute Zusammenarbeit anzuknüpfen. Die deutsche Außenpolitik muß im Sinne eines sicherheitspolitisch stabilen Mitteleuropas weniger Sorge darum tragen, die bereits vorhandene wirtschaftspolitische Zusammenarbeit mit Rußland zu verstärken, als für die legitimen politischen Interessen Rußlands, wie etwa ein Mitspracherecht bei der EU-Osterweiterung, Verständnis zu entwickeln und für eine Akzeptanz dieser Anliegen in Europa zu werben. So wird Deutschland innerhalb der Osterweiterung eine Vorreiterrolle übernehmen.

Im Laufe dieses Prozesses sollte die Bundesregierung auch die Vertriebenverbände intensiv einbinden. Manch einer wird sich fragen, ob eine solche Entwicklung wirklich von Vorteil sei, und dabei insbesondere an Profilierungs- und Kompetenzstreitigkeiten in den Verbänden denken. Stellen die Vertriebenen nicht aufgrund ihrer kulturellen Verbundenheit mit ihrer alten Heimat eine ideale Brückenfunktion zu den osteuropäischen Staaten dar? Ein Ergebnis einer solchen Beziehung könnte ein offenerer Umgang mit der Geschichte – meint ein Verhalten, das sich für die an den Ostdeutschen begangenen Menschenrechtsverletzungen entschuldigt – in dieser Region sein. Deutschland hätte gute Chancen, zu den osteuropäischen Staaten ein positives Verhältnis aufzubauen und sich zum Sprecher ihrer Belange innerhalb der Europäischen Union zu machen. Dies würde sich langfristig auch wirtschaftlich auszahlen, abgesehen von den kulturellen Gewinnen, die man gerade im Hinblick auf die deutschen Ostgebiete erzielen könnte.

Man sieht, daß es genügend Ansatzpunkte für eine neue Bestimmung der deutschen Außenpolitik gibt. Allerdings erschöpfen sich die Bemühungen von Schröder, Fischer und Scharping, ihre Politik als Rückkehr zur Normalität darzustellen, in bloßer Rhetorik. Man geht, um die Maxime des bisherigen Bundespräsidenten Herzog zu bemühen, "unverkrampft" an die Sache heran. Hält gerne eine paar Reden, kommt dabei möglichst energisch, flexibel, vor aber allem telegen daher und betreibt insgesamt gesehen die Politik als großangelegte "Lockerungsübung". Der Regierungsstil der rot-grünen Bundesregierung reagiert fast nur noch versatzstückartig auf einzelne Geschehnisse der Tagespolitik. Der Bundesregierung gelingt es nicht, ihre inhaltlichen Zielsetzungen angemessen zu artikulieren. Sie hat noch keinen eigenen außenpolitischen Stil gefunden und sorgt so für Verwirrung im europäischen Ausland. Zunächst gibt Schröder sich als willenstarker Verteidiger deutscher Interessen, knickt dann aber, wenn es um die politische Verwirklichung geht, ein. Es ist dem Bundeskanzler anzumerken, daß er mit dem außenpolitischen Tagesgeschäft überfordert ist. Dieses Defizit sucht er zu überspielen, indem einen er aggressiven Tonfall anschlägt, der sich aber mangels konkreter Umsetzung als viel Lärm um nichts entpuppt.

 

Sebastian Sasse, 19, hat im Juni in Essen Abitur gemacht und ist zur Zeit für einige Wochen in der Redaktion der JUNGEN FREIHEIT tätig. Sein Text ist eine Reaktion auf den Beitrag "Ungewohnte Normalität" von Oliver Geldszus (JF 26/99; S. 11) über die künftige außenpolitische Rolle Deutschlands.


 
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