© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/99 09. Juli 1999


9. November 1989
Dieter Stein

H

ast Du schon gehört? In Berlin wird die Mauer abgerissen! Los, wir fahren hin!" Freitag, der 10. November, 11.00 Uhr. Eben hat mich ein Kommilitone aus dem Bett geklingelt und mir die Situation mit überschlagender Stimme geschildert. Kurzentschlossen starten wir in Freiburg (800 Kilometer südwestlich von Berlin) mit dem Auto. Vollkommen elektrisiert von den sich überstürzenden Ereignissen – stündlich kommen Meldungen über die begeisternden Szenen aus der bislang geteilten Stadt – fahren wir über Karlsruhe, Frankfurt gen Berlin. Hinten in der Heckscheibe haben wir ein Schild "Auf in die Hauptstadt" befestigt.

17.30 Live-Übertragung der Reden vom Schöneberger Rathaus in West-Berlin. Enttäuscht hören wir die peinlichen, bestürzenden Worte des Regierenden Bürgermeisters Momper: hartnäckiges Plädoyer der Zweistaatlichkeit, er spricht von einem "Volk der DDR". Danach Willy Brandt, frenetisch gefeiert von "seinen" Berlinern. Brandt war Regierender Bürgermeister, als 1961 die Mauer gebaut wurde. Er findet die Worte, die zünden. Eine geradezu patriotische Rede. "Berlin wird leben und die Mauer wird fallen". Genscher, auch betont national: "Es gibt keine kapitalistische, es gibt keine sozialistische, es gibt nur die eine, auf der Freiheit begründete deutsche Nation!"

18.14 Uhr. Meldung: Die Mauer wird bereits an mehreren Stellen von Ost-Berliner Seite abgerissen. Spontan intonieren wir das Deutschlandlied.

23.00 Uhr. Wir haben Berlin erreicht. Mit drei schwarz-rot-goldenen Flaggen ziehen wir über den total überfüllten Kurfürstendamm. Ganz Berlin ist auf den Beinen. Eine Millionenstadt feiert Wiedersehen. Menschen, wohin man sieht, Musik, Lachen, Menschen, die sich um den Hals fallen.

23.45 Uhr. Am Reichstag vorbei ziehen wir auf das Brandenburger Tor zu. Rund 7.000 Menschen stehen vor und auf der Mauer. Von einer improvisierten Diskothek ertönt Musik. Ich laufe auf die Mauer zu, von der sich mir Hände entgegenstrecken. Ich ergreife sie und werde hochgehoben. Ich kann es nicht fassen: auf der Mauer, auf diesem verhaßten Stück, das uns Jahre schmerzlich zerriß, nun vereint mit Jugendlichen aus beiden Teilen der heute vor Glück trunkenen Stadt!

Während dieser Nacht sprangen immer wieder einzelne auf Ost-Berliner Seite, um die Kette der "Volkspolizisten" zu durchbrechen, mußten jedoch immer wieder hinaufsteigen. Es bot sich Gelegenheit zur Selbstdarstellung: Es sprangen Yuppies in ihrem dunklen Zweireiher hinunter, wie auch ein Splitternackter, bei dem die beherzten Polizisten zunächst zögerten, ob sie ihn anfassen sollten, um ihn jedoch dann auch wieder hinaufzuheben. Die ganze Nacht durch erscholl der Ruf: "Die Mauer muß weg!", "Wir wollen rein!", auch wurden VoPos als "Schweine", "Nazis", "Faschisten" beschimpft. Ein junges Pärchen aus Ost-Berlin intoniert sein Lied (nach der Melodie "Lady in Black" von Uriah Heep):

Tausend Meilen im Quadrat
nur Minenfelder, Stacheldraht
dann weißt Du, wo ich wohne:
ich wohne in der Zone.
Doch einmal wird es anders sein,
dann knasten wir die Bonzen ein,
dann schmeißen wir Russen und Amis raus
und bau’n ein eig’nes Deutschland auf!

Dieter Stein in: JUNGE FREIHEIT, November/Dezember 1989


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen