© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/99 02. Juli 1999


Demontage: Das System der Pariser Vorortverträge wirkt bis heute hemmend auf politische Veränderungen
Einbinden, kontrollieren, ausplündern
Josef Schüsslburner

Zum internationalen System, das nach dem Ersten Weltkrieg errichtet wurde, gehört nicht nur das Friedensdiktat von Versailles, sondern auch die anderen, in weiteren Pariser Vororten abgeschlossenen Verträge. Dabei geht es neben der mit Bulgarien in Neuilly-sur-Seine und mit der Türkei in Sèvres abgeschlossenen Vereinbarung insbesondere um die in St. Germain und Trianon den Staaten des ehemaligen Österreich-Ungarn auferlegten Regelungen.

Vor allem der Vertrag von St. Germain bildet mit den Regelungen von Versailles eine inhaltliche Einheit, da er den Deutschen das nationale Selbstbestimmungsrecht verwehrt, welches von den Westmächten zum Zwecke des inneren Verfassungsumsturzes und der Förderung der Kapitulationsbereitschaft gegenüber einer aufgrund der alliierten Hungerblockade verelendeten und kriegsmüden deutschen Bevölkerung als Kriegslist propagiert worden war. Bekanntlich hat die vorläufige Nationalversammlung von Deutsch-Österreich am 12. November 1918 beschlossen, sich unter Einschluß von Deutsch-Böhmen und des späteren Sudetenlandes zum Bestandteil der deutschen Republik zu erklären.

Diese Erklärung fand ihren Widerhall in Artikel 61 der demokratischen Weimarer Reichsverfassung, welcher bestimmte, daß Deutsch-Österreich nach seinem Anschluß an das Deutsche Reich das Recht zur Teilnahme am Reichsrat mit der seiner Bevölkerung entsprechenden Stimmenzahl erhalte. Der wesentliche Inhalt des Abkommens von Saint-Germain-en-Laye vom 10. September 1919 war folgerichtig, diese Verwirklichung des demokratischen Anschlusses zu verhindern, indem die Unabhängigkeit Österreichs als "unveräußerlich" garantiert wurde. Gleichzeitig mußte sich die Republik Österreich unter dem Druck eines dem Artikel 231 des Versailler Vertrages nachgebildeten Kriegsschuldartikels und darauf basierender Entschädigungsforderungen mit der Abtrennung Deutschböhmens, des Sudetenlandes, Südmährens, Südböhmens und weiterer Gebiete einverstanden erklären. Die genannten Gebiete wurden der neu gegründeten Tschechoslowakei zugeschlagen, welche sich als Staat der ad hoc begründeten "tschechoslowakischen Nation" verstand, obwohl ihm 3,5 Millionen Angehörige der deutschen Nation zugehören mußten. Der in Trianon geschlossene Friedensvertrag mit Ungarn schließlich unterstellte drei Millionen Ungarn der Oberherrschaft der Nachbarstaaten, insbesondere dem Königreich Rumänien.

Durch das Zusammenwirken der Verträge von Versailles, St. Germain und Trianon ergab sich die Konstellation von vier vom Westen begünstigten osteuropäischer Nationen, nämlich der Polen, Tschechen, Rumänen und Serben, welche als deutschfeindlich galten oder in eine entsprechende Situation manövriert werden konnten und denen daher vom Westen die Aufgabe zugewiesen wurde, in Koalition miteinander die potentiell deutschfreundlichen Völker und damit die Deutschen unter Kontrolle zu halten, das heißt "einzubinden", wie dies in einer späteren Periode genannt werden sollte. Diese neuen Herrenvölker der westlichen Mächte behandelten die ihnen bewußt zur potentiellen Konfliktförderung unterstellten nationalen Minderheiten mit einer Überheblichkeit, welche in der Habsburger Monarchie, dem "Völkerkerker" der nach sozialistischen Vorgaben arbeitenden westlichen Kriegspropaganda, undenkbar gewesen wäre.

Bereits vor Unterzeichnung der genannten Friedensverträge hatten die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien zur Wahrung ihrer Interessen ein Defensivbündnis abgeschlossen (die kleine Entente), welches in den Folgejahren einer wirksamen Abrüstung entgegenwirken sollte, da seine Mitglieder schon zur Einschüchterung und (potentiellen) Unterdrückung der ihnen unterstellen nationalen Minderheiten einen umfangreichen Militärapparat vorhalten mußten, welcher in Verbindung mit den französischen und polnischen Divisionen das unter dem Vorwand der anzustrebenden generellen Abrüstungspolitik vorweg mittels des Versailler Vertrages zur Abrüstung verurteilte Deutsche Reich jeder außenpolitischer Erpressung aussetzte. Diese Konstellation der wehrlosen deutschen Republik begünstigte den Vertreibungsdruck gegen die Deutschen in Polen und ließ das bereits 1920 in der Tschechoslowakei verkündete Konzept einer totalen Deutschenvertreibung als immer drohende Möglichkeit erscheinen.

Kontrolle der Deutschen im Interesse der "Zivilisation"

Den Polen verhalf dabei, neben dem von Deutschland gesetzten Präzedenzfall des bereits wieder begründeten Königreiches Polen das Glück des Untergangs des Russischen Reiches zu ihrer begünstigten Stellung; denn eigentlich hätten die Engländer eine polnische Autonomie unter einem unmittelbar an das Deutsche Reich angrenzenden Rußland im "Interesse der westlichen Zivilisation" (Außenminister Balfour), das heißt zur Niederhaltung der Deutschen vorgezogen: Eine Haltung, die erklärt, warum 1939 die Engländer zwar etwas gegen das deutsche Vorgehen zum Schutze der deutschen Minderheit in Polen und zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts von Danzig auszusetzen hatten und mit dem Beginn des Weltkriegs – "von Hitler herausgefordert" – antworteten, aber kaum etwas gegen das gleichzeitige Vorgehen von Sowjetrußland gegen Polen, Finnland und das Baltikum taten, da dieses Rußland zum unmittelbaren Nachbarn der Deutschen und damit entsprechend der von Imperialmächten instinktiv beherrschten Lehre des altindischen Staatstheoretikers Kautilya, wonach unmittelbare Nachbarn natürliche Feinde und die Nachbarn des Nachbarn natürliche Freunde sind, vom natürlichen Verbündeten zum natürlichen Feind Deutschlands verwandelte. Vorher hatten folgerichtig die Engländer wenig gegen die deutsche Aufrüstung einzuwenden gehabt, da nur diese geeignet erschien, das durch die genannten Friedensverträge zur kontinentalen Vormacht aufgestiegene Frankreich, welches parallel zur Tschechoslowakei 1935 mit der Sowjetunion ein Militärbündnis abschloß, in Schach zu halten.

Natürlich ist im zeitgenössischen Deutschland nicht nur der Vertrag von Versailles, sondern auch das damit machtpolitisch verbundene gesamte internationale Einbindungssystem einer starken Kritik ausgesetzt gewesen. Man kann sich dieser Kritik, insbesondere ihrem moralisierenden "westlichen" Ansatz, nicht ohne weiteres anschließen, weil sie – wie ihr zu Recht vorgeworfen worden ist – von einem erstaunlichen kollektiven Wunschdenken zeugte, das für die Haltung deutscher Politiker gegenüber dem Westen, wie nicht zuletzt jüngste Entwicklungen zeigen, noch immer kennzeichnend ist: Deutsche meinen, wie es eben "typisch deutsch" ist, daß der Westen Werte als Selbstzweck verkündet, während er in Wirklichkeit ein durchaus als legitim anzusehendes instrumentales (nur aus deutscher Sicht heuchlerisches) Verhältnis zu diesen hat, d.h. der Westen macht sich einen Staat nicht deshalb zum Feind, weil dieser etwa Menschenrechte verletzt, sondern wirft vielmehr einem aus machtpolitischen Gründen zum Feind erklärten Staat Menschenrechtsverletzungen vor. Deshalb konnten die Deutschen nicht erwarten, daß der Westen unter Berufung auf das vom ihm als Kriegsparole ausgerufene Selbstbestimmungsrecht einen Anschluß Österreichs – und mag dies noch so demokratisch und verfassungsrechtlich geboten gewesen sein – billigen würde. Die Deutschen hätten damit letztlich den Krieg gewonnen, war doch nicht zuletzt von der deutschen Sozialdemokratie der Krieg im Bündnis mit Österreich-Ungarn deshalb unterstützt worden, weil er als Fortsetzung von 1866 (Bildung von Großpreußen) und 1871 (Bildung von Kleindeutschland) erschien, welcher unter Ausschaltung des russischen Einflusses auf die deutsche Verfassungsentwicklung nach dem von den sozialistischen Klassikern gewünschten Verteidigungskrieg gegen das Zarentum, den Traum der 1848er vom demokratischen Großdeutschland verwirklichen würde.

Einbindungsherrschaft als Ersatz für Volkssouveränität

Und man konnte von den Engländern wirklich nicht den Glauben erwarten, daß ein sozialistisches Großdeutschland "das Ende der Geschichte" bedeuten würde, waren doch die Stimmen unter anderem aus der deutschen Sozialdemokratie noch in Erinnerung, welche den Ersten Weltkrieg als Revolutionskrieg gegen die englische Weltherrschaft (kapitalistisches Weltsystem) verstanden wissen wollten.

Auch sollte die westliche, vor allem von fortschrittlichen Kreisen gepflegte Kriegspropaganda klar gemacht haben, welche gegen die Deutschen als solche gerichtet war – la race humaine contre la race Allemande –, daß ein demokratisierender Verfassungsumsturz kein geeignetes Mittel sein würde, der Politik der wirtschaftlichen Ausbeutung zu entgegnen, welche der westlichen Kolonialpolitik immer als Herrschaftsmittel gedient hatte.

Naiv waren andererseits die Vorstellungen der deutschen "Liberalen", dieses demokratische Großdeutschland könne unter Abschüttelung der Versailler Schuldknechtschaft und des Einbindungssystems der Pariser Vorortverträge im Revisionsverfahren nach der Satzung des Völkerbundes entstehen. Für die Angelsachsen traten internationale Organisationen, welche so organisiert sind, daß die sie dominierenden Mächte bei der Durchsetzung ihrer außenpolitischen Ziele immer im Recht, ihre Gegenspieler als Friedensstörer, Verbrecher und Menschheitsfeinde immer im Unrecht sind, die Fortsetzung der Weltherrschaftspolitik, welche von einer vorübergehenden Umerziehungsdiktatur abgesehen, keine Kolonien, Protektorate etc. mehr benötigen würde. Damit wird die "westliche Wertegemeinschaft" begründet, die auf der eigenartigen Vorstellung beruht, daß trotz Demokratie, welche politische Freiheit verwirklichen soll und eigentlich die politische Differenz betonen müßte, überall gleich entschieden wird: Ein Beleg, daß im Rahmen der Einbindung Demokratie nur Selbstverwaltung bedeuten kann, deren Grenzen und Befugnisse kollektivistisch von der "internationalen Gemeinschaft", das heißt von den sie beherrschenden Mächten bestimmt werden.

Wie weitgehend diese Einbindungsherrschaft bereits Demokratie (Volkssouveränität) ersetzt hat, geht daraus hervor, daß nach der totalen Niederlage des Zweiten Weltkrieges das Abschütteln der wesentlichen Regelung des Vertrages von St. Germain nicht nur außenpolitisch unmöglich ist, sondern man innenpolitisch von der staatlichen Ideologiekontrolle der Bundesrepublik zum Feind erklärt wird, wenn man die Geltungserstreckung des Grundgesetzes befürwortet: Und dies zu einer Zeit, wo angeblich die Vereinigung der Deutschen und Franzosen zu "Europäern" möglich sein soll, nur nicht – letztlich aufgrund von St. Germain – die der Deutschen und Österreicher zu einem Europa der besonders schnellen Geschwindigkeit zum Zwecke der Erfüllung der 1848 begründeten demokratischen Tradition der Deutschen. Den Ungarn empfiehlt es sich nicht, sich für die Revision von Trianon einzusetzen, weil sie im Zweifel von bundesdeutschen Regierungspazifisten im westlichen Auftrag zur Aufrechterhaltung des "multikulturellen" (wie eine weitere Beherrschungsformel des Einbindungssystems heute heißt) Rumänien bombardiert werden würden. In der Einbindungsherrschaft müssen sich nämlich die Menschen den im westlichen Herrschaftsinteresse begründeten Grenzen und nicht die Grenzen den Menschen anpassen, wobei ethnische Säuberung eine naheliegende Option einer derartigen Ordnung darstellt – wie nicht zuletzt die Aufrechterhaltung der Deutschenvertreibung durch die westliche Wertegemeinschaft belegt.

Aber die Geschichte ist nicht zu Ende: Bekanntlich sind die Tschechoslowakei und weitgehend auch Jugoslawien als Kunstprodukte des Pariser Vorortregimes zerfallen, ja der Westen führt – allerdings nach langem Zögern – aufgrund der Änderung der geographisch- politischen Situation (Türkei und damit Bulgarien – Albanien, anstatt Rumänien – Serbien (– Griechenland) sind in dieser Gegend zum Hauptverbündeten geworden) Friedensaktionen gegen Serbien, seinen bisher treuesten Balkan-Verbündeten durch. Dabei wird Serbien wertegemeinschaftskonform wegen seiner polnisch/tschechischen Maßnahmen deshalb zur "Diktatur" ausgerufen, weil es neben seiner post-kommunistischen Regierungspartei nur über eine rechtsextremistische Opposition verfügt (diese Art des Parteienpluralismus ist verdächtig).

Die sich ändernde geographisch-politische Situation, wie etwa auch das "neue" ad-hoc-Völkerrecht gegen Serbien, zeigt die Möglichkeiten für eine auf die Überwindung des Pariser Einbindungssystems gerichtete deutsche Politik auf. Eine verteidigungstechnische Kooperation mit der indischen und japanischen Demokratie (es empfiehlt sich die Übernahme des Einbindungsvokabulars) sowie ein Bündnis mit der russischen Demokratie, welches den Schutz des UN-Systems gewährt, könnte in diesem Sinne eine Menge bewirken.


 
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