© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/99 02. Juli 1999


Berndt von Staden: Erinnerungen aus der Vorzeit. Eine Jugend im Baltikum 1919 bis 1939
Ambivalente Haltung zum Reich
Doris Neujahr

Einer der melancholischen Romane, in denen der 1918 verstorbene Eduard von Keyserling vom Leben des baltendeutschen Adels erzählt, dem die politischen und gesellschaftlichen Grundlagen abhanden gekommen sind, und in denen so viel von Abschied und Vergänglichkeit die Rede ist, trägt den Titel "Abendliche Häuser". In den Häusern, aus denen Berndt von Staden berichtet, ist der Abend unterdessen noch weiter vorangeschritten. Durch den Ersten Weltkrieg und die anschließenden Umbrüche war den Salons und Herrensitzen der einstigen Führungsschicht nun auch der ökonomische Unterbau verloren gegangen. Die Memoiren von Stadens umfassen den Zeitraum von 1919, seinem Geburtsjahr, bis 1939, als er Estland in Richtung Deutschland verläßt.

Die Stadens gehörten im Baltikum zum alteingesessenen deutschen Adel. Politisch war er nach der Unabhängigkeit Estlands und Lettlands durch die Auflösung der Ritterschaften entmachtet, die Enteignung des Großgrundbesitz brach ihm wirtschaftlich das Rückgrat. Der Vater behielt von ursprünglich 2.000 Hektar ganze 40 und bestritt seinen Lebensunterhalt als Bankangestellter. Staden beschreibt das Bemühen dieser standesbewußten Elite, dieser Deklassierung die alte Exklusivität entgegenzusetzen, was häufig nur auf die Kultivierung des Mangels hinauslief.

In Estland gab es zu diesem Zeitpunkt etwa 16.000 Deutsche. In der Hauptstadt Reval zählten rund 6.500 von ihnen "zur Gesellschaft". Sie besaßen einen Minderheitenstatus und Kulturautonomie, die das Recht einschloß, muttersprachliche Schulen einzurichten. Von Staden besuchte die Domschule, deren einstiger Zeichenlehrer Alfred Rosenberg im NS-Staat zu zweifelhaftem Ruhm kommen sollte. Für die damalige Zeit war die estnische Minderheitenpolitik vorbildlich. Doch wenn der Autor 1938 die Aufnahmeprüfung für das Jura-Studium allein deswegen nicht bestand, weil er einen von acht estnischen Generälen vergessen hatte, die während der Oktoberrevolution nach Sibirien deportiert wurden, und er hinterher auch noch erfährt, daß dieser in Wahrheit nie nach Sibirien gelangt war, sagt das einiges über die von kleinlichen Schikanen erfüllte Atmosphäre zwischen ethnischer Mehrheit und Minderheit aus.

Die Position der Deutschen in den Ostseeprovinzen des Russischen Reiches war bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts problematisch geworden, als sie zwischen dem erwachenden estnischen Nationalbewußseins und den Russifizierungstendenzen gerieten. Ihre Identität definierten sie nicht unbedingt im nationalstaatlichen Sinn. Kulturell fühlten sie sich Deutschland zugehörig, nicht aber politisch. Die Loyalität galt am ehesten dem Zaren, während man der russischen Bürokratie mißtraute.

In den Kreisen von Stadens neigte man, so der Autor, einem "vernünftigen, besonnenen und eher konservativen Denken" zu. Daran änderte sich auch nach 1933 nichts, obwohl Wirkungen etwa auf die Jugend nicht ausblieben. Es ist die Stärke dieser Memoiren, daß sie einerseits aus der persönlichen und historischen Distanz verfaßt sind, andererseits die Perspektive veranschaulichen, aus der ein junger Mann damals die Ereignisse betrachtete.

Der Schock des Hitler-Stalin-Paktes war groß: "Der Bolschewismus galt nicht allein als der Todfeind, er verkörperte die tödliche Gefahr schlechthin. Und nun hatte sich Deutschland mit diesem System gesetzloser, unbarmherziger Gewalt zusammengetan!" Die ambivalente Haltung des jungen Deutschbalten zum Reich zeigte sich nochmals beim Kriegsausbruch, als sein Vater ihm zur Flucht nach Deutschland riet, er aber am 15. September 1939 zur estnischen Armee einrückte. Am 23. September forderte die Sowjetunion ultimativ ein Militärabkommen und stationierte 25.000 Soldaten in Estland. Die Pässe der Deutschbalten wurden am 6. Oktober annulliert, drei Tage später verbreitete sich die Nachricht über die bevorstehende Umsiedlung ins Deutsche Reich. Am 2. November 1939 verließ Berndt von Staden mit dem KdF-Schiff "Die Deutsche" Estland in der realistischen Einschätzung, daß es keine andere Möglichkeit gab. "Davon, daß wir ‘freudig dem Ruf des Führers folgten’, kann keine Rede sein". Die vorherrschende Stimmung sei die einer Amnesie gewesen. Es war das Ende des Deutschtums im Baltikum. Berndt von Staden wurde später Botschafter in Washington und Staatssekretär im Auswärtigen Amt.

 

Berndt von Staden: Erinnerungen aus der Vorzeit. Eine Jugend im Baltikum 1919 bis 1939. 240 Seiten, 50 Abb., Siedler-Verlag, Berlin 1999, 39,90 Mark


 
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